Blinde Flecken
Kritik und Realismus
von Kathrin Röggla
Erschienen in: Recherchen 116: Die falsche Frage – Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen (02/2015)
1. Politische Ohnmacht und Beifall von falscher Seite
„Un otro mundo es possible“, steht gesprayt auf der Brücke in Nord-lanzarote. Mitten ins Touristennest hineingespuckt. Es wirkt so irreal im Rahmen der fake holidays, dass man meinen könnte, es sei Teil der touristischen Inszenierung. Denn dass heute jeder Protest sein T-Shirt hervorbringt, dass die Kritik an der Wachstumsgesellschaft zum Livestyle des jugendlichen Stadtbewohners gehört, zu seiner Selbstinszenierung, die zugleich das neueste iPhone verlangt und gewisser Markenklamotten bedarf, ist auch dort bekannt. Und man möchte auf Lanzarote T-Shirts verkaufen.
Umgekehrt kann man sagen, dass Kritik heute eine gewaltige Sichtbarkeit braucht. Dass eine Mainstreamisierung von kritischen Positionen stattfindet, dass Sichtbarkeit als vorrangiges Kriterium für die Bedeutung einer kritischen Position gilt. Zeitungen weisen ihre meistgelesenen Artikel aus, die dann als Selbstläufer funktionieren, die Quote diktiert im Fernsehen ohnehin schon jede minimalste geistige Regung, bis diese erlischt, das Prinzip Flashmob und Twitterfollower durchzieht auch mehr und mehr die Theaterhäuser. Und manchmal reicht in unserer Erregungskultur nur der aggressive Spruch, das politisch Unkorrekte, Grobe, mit dem reaktionär Faschistoiden Flirtende, wie man an dem Fall Sybille Lewitscharoff und ihrer Dresdner Rede in diesem Frühjahr sehen kann, um eine maximale Sichtbarkeit zu erzeugen,99 während daneben andere...