Praxis
I came by to say hi
Altersdiverse Zusammenkünfte im Vermittlungsraum von Julia Miorin in der Kunsthalle Osnabrück
von Christel Schulte
Erschienen in: ixypsilonzett winterheft 2024/25: Generation what?! (01/2025)
Assoziationen: Niedersachsen
Eine radikale Idee: 200 Quadratmeter institutioneller Ausstellungsfläche der Kunsthalle Osnabrück, einem Haus für Gegenwartskunst, verwandeln sich in einen Forschungs- und Vermittlungsraum zum Thema intergenerationelle Versammlung und Beteiligung, für mindestens zwei Jahre!
Eine Idee, die die Wurzel und den Kern von Vermittlungsarbeit berührt und schon von Beginn an Vorgehensweisen von Vermittlungstheorie und -praxis zu befragen empfiehlt. Denn im Jahr 2024 und 2025 beschäftigt sich die Kunsthalle mit dem Jahresthema Kinder, hört mal alle her! und fragt dabei insbesondere nach neuen Wegen konkreter Beteiligung ihres Publikums. Das Team der Kunsthalle erprobt dazu Möglichkeiten gemeinsamer Produktion von Wissen, hinterfragt Lern- und Lehrdidaktiken und forscht insbesondere danach, in welchen Räumen altersheterogene Gruppen in welcher Weise in Verbindung kommen können.
„Bau‘ uns einen hellen, willkommen heißenden, multifunktionalen Raum!“, hatten wir, das Team der Kunsthalle Osnabrück, der Künstlerin Julia Miorin zugerufen. Fast zwei Jahre ist das her. Und Julia Miorin, Bildhauerin und Kunstvermittlerin, hat zugesagt. Ihre Bedingung: Nicht allein wollte sie ein Kunstwerk ersinnen, planen und realisieren, sondern gemeinsam mit einer intergenerationalen Gruppe von Menschen (der so genannten Prüfgruppe) den vorhandenen, architektonischen Raum sinnlich erfahren, um anschließend einen ersten Entwurf zu diskutieren. Sie wünschte sich einen Workshop mit viel körperlicher Wahrnehmungssensibilisierungsarbeit, um dann gemeinsam über Nutzungs- und Gelingensbedingungen für Vermittlungsarbeit nachzudenken. Julia Miorins künstlerische Arbeit mit dem Titel I came by to say hi wurde am 15. Juni 2024 eröffnet.
Ich denke, es ist wichtig, Kunstvermittlung in der Wahrnehmung von und mit Kunst als einen Aushandlungsprozess zu verstehen und nicht als Kategorisierungsmethode, die zwischen Wissenden und Nicht-Wissenden, zwischen „Alten“ und „Jungen“ unterscheidet. Kunstvermittlung orientiert sich an Situationen, die sich individuell und aktuell ereignen – immer mit denjenigen Personen, die anwesend sind. Kunstvermittlung geht hier nicht vom Defizitären aus. Alles, was da ist, ist da. Alle, die da sind, sind da.
Vermittlungskonzepte sind in diesem Sinn Annäherungsversuche, besonders in Zusammenarbeit mit hierarchisch geprägten Institutionen. In der alltäglichen Praxis-Arbeit mit Bildungsinstitutionen, z.B. in aktuell stattfindenden Kooperationen mit Schulen, interessieren sich altersheterogene Lern- und Lehrpersonen für alternative Formen von Bewertung, Benotung, Einordnung und deren Kriterien. Dabei Transparenz zu organisieren, ist deshalb wichtig, weil diese Kriterien dann gemeinsam befragt, angezweifelt und verändert werden können. Wir müssen fragen: Können hierarchisch geprägte Systeme, in denen fest gefügte gegenseitige Erwartungen und Zuschreibungen bestehen, in alternative, offene Strukturen verwandelt werden? Sicher ist: Wir brauchen Lust am gemeinsamen Experiment, Freude an Fehlern, Neugierde auf etwas, das vielleicht (nicht) gelingt.
Einen offenen Vermittlungs- und Beteiligungsraum also. Kein ausgelagerter Raum für die den klassischen Führungskonzepten nachgeschalteten Praxiseinheiten, kein Klassenzimmer, sondern einen Raum mit bewegungsfreundlichen, flexiblen Elementen: Ein sich ständig veränderndes Modell für unterschiedliche Momente des Zusammenkommens. Einen Vermittlungsraum ohne Trennendes und doch mit der Option, geschützter Raum zu sein. Für eine intergenerationale Gemeinschaft, die sich versammeln, spielen, lernen oder sich, ganz ohne Konsumzwang, einfach treffen will.
Im schließlich verwirklichten künstlerischen Konzept sind alle Objekte farblich definiert und auf die Fläche verteilt, ohne den Raum zu versperren. Alle können weit hinein in diesen großen Raum blicken, zu anderen Besucher*innen, die sich zeitgleich treffen, zum Lesen und Schreiben an Tischen hocken, Hausaufgaben erledigen, mit Modelliermasse kleine Kunstwerke produzieren oder sich in selbst gebauten Polsterbuden erholen. Viel Licht kommt durch die Fenster auf beiden Seiten des Raums herein. Es gibt verschieden geformte Einzeltische, die zu einem großen werden können. Es gibt hellblaue Sofas, eine Inspiration aus dem öffentlichen Raum, einem Urban Gardening Projekt direkt vor unserer Kunsthalle. Es gibt eine aus flauschigem, grünem Teppich gefertigte Liegewiese, auf der die Mittagspause verbracht oder bäuchlings gezeichnet wird und die womöglich Bewegungsroutinen des vorherigen Wege-Leitsystem verändert: umrunden, darauf liegen, darüber gehen. Hinzu treten Begegnungsmomente in laufenden Vermittlungssituationen zwischen Anwesenden und neu Hinzukommenden. Aushandlungen zu Anwesenheiten inklusive.
Was können wir lernen in dieser neuen, eigenen Räumlichkeit? Wer bestimmt, wie in diesem Raum gelernt wird? Welche Raum-Aktivierungsformate wählen wir?
Exemplarisch möchte ich das Playing Up-Kartenspiel beschreiben, mit dem sich die Kunsthalle seit 2017 der Vermittlung von Performancekunst als Weiterentwicklung eines in 2016 realisierten Play Ins in Kooperation mit dem FUNDUS THEATER, Hamburg, befasst. Playing Up ist ein Vermittlungs- und Forschungsprojekt für Kinder und Erwachsene. Es macht historische Performances im Wege des Selbermachens erfahrbar. Insgesamt 36 Performances werden auf Einzel-Spielkarten erläutert und sind anschließend Anlass, individuelle Reenactments durchzuführen. Eine der Karten ist der Performancegruppe Mammalian Diving Reflex und deren Performance Haircuts for Children gewidmet. Hier wird ein möglichst authentisch wirkender Frisiersalon mit einzelnen Frisierplätzen, einem Wartebereich mit Katalogen von Beispielfrisuren und leiser Hintergrundmusik als temporäres Setting im Vermittlungsraum eingerichtet. Utensilien wie Kämme, Haarschneidescheren, Sprühflaschen, Handtücher und Frisierumhänge stehen den Teilnehmer*innen zur Verfügung. Die Handlungsanweisung ist leicht nachvollziehbar und zugleich oft überraschend: Kinder schneiden Erwachsenen die Haare! Was wie eine simple Einladung wirkt, entwickelt sich schnell zu einem Aushandlungsprozess, in dem nicht nur die Haarlänge diskutiert werden muss, sondern ein Kind-Erwachsenen-Rollentausch praktisch erfahrbar wird. Wie empfinden sich Erwachsene in der Rolle des Kindes, eben derjenigen Person, die sich der adulten Macht beugt, widersetzt, sie verhandelt oder einfach akzeptiert? Erinnern sich Erwachsene an lange zurückliegende Situationen aus Räumen ihrer Kindheit? In welchem Maße sind sich Kinder der potentiellen Entscheidungsmacht über die Haarlänge ihrer Eltern bewusst? Nehmen Kinder diese Situation als eine langersehnte wahr? Wie verhandeln sie? Wie verändern sich internalisierte Routinen in der Rahmung des Rollentausches? Treten sie womöglich erst in einem solchen Moment hervor, werden sichtbar und sogar artikulierbar? Was passiert, wenn die Performance nicht stattfinden kann, weil sich Erwachsen weigern? Welche Argumentationen werden hier aktiviert, welche aus eigenen Kindseinserfahrungen reproduziert? Kann eine gemeinsame Erfahrung einen nachhaltigen Lernprozess in Gang setzen? Eine solche performativ-ästhetische Untersuchung alltäglicher Beschäftigungen gelingt hier als Initialisierungsmoment für Fragen, die den Begriff „Raum“ als einen konkreten auffassen und die zugleich einen sinnbildlichen Aushandlungsraum für ein altersdiverses Publikum öffnen.
Dabei stellen sich auch kritische Fragen, beispielsweise solche nach neuen Sichtbarkeiten und deren Bedeutung für Teilnehmer*innen. Was bedeutet es grundsätzlich, in Arbeitsprozessen von anderem, zufälligem Publikum sichtbar zu sein? Teilnehmer*innen und auch Vermittler*innen werden beobachtet, bestätigt, erhalten Zuspruch oder auch kritische Rückfragen und einhergehend damit eine permanente, geradezu ausstellende, bühnenhafte Positionierung, die nicht automatisch willkommen sein muss. Auch erhalten auftragnehmende Vermittler*innen durch diese deutlich größere Präsenz vor Auftraggeber*innen eine neue Sichtbarkeit im institutionellen Zusammenhang. Bleibt dies für konzeptuelle Überlegungen von Vermittlungsprogrammen ohne Konsequenz?
Ich schreibe meinen Text in genau diesem Raum, während Schüler*innen zu einem Workshop eintreffen, langsam in eine körperbasierte Raumaneignungsarbeit kommen und zufällig auf vier andere Besucher*innen unterschiedlichen Erwachsenenalters treffen. Diese werden kurzerhand eingeladen, für die nächsten 60 Minuten zuzuschauen, dabei zu sein, Fragen zu wagen oder „die Sache mit den One Minute Sculptures“ selbst auszuprobieren.
Ein wenig Großraumbüro, WG, auch Schule. Ein Raum für kooperative Zusammenkünfte. Vor allen Dingen aber ein räumlich inspiriertes Miteinander. Ein Begriff für das, was sich gerade ereignet und ereignen wird, ist noch zu finden. Ob es sich der von Sibylle Peters geführten Forschung zu Versammlung und Teilhabe1 wird nähern können, werden wir in Osnabrück abwägen, weiterdenken, womöglich neu denken und frühestens in zwei Jahren beschreiben dürfen.
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1 Burri, Regula Valérie, Evert, Kerstin, Peters, Sibylle, Pilkington, Esther, Ziemer, Gesa (Hg.), (2014), Versammlung und Teilhabe, Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste, (1. Aufl.), transcipt.