Ästhetik und Gemeinsinn
Das unverminderte Faszinosum „Brecht“
von Jost Hermand
Erschienen in: Recherchen 137: Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers – Brecht-Studien (04/2018)
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Wer erinnert sich noch daran, was man nach dem Zusammenbruch des Nazifaschismus in der US-amerikanischen Besatzungszone unter „Kultur“ verstanden hat? Im Gegensatz zu heute, wo im Zuge der steigenden Wohlstandsvermehrung sogar von Ess-, Reise-, Fernseh-, Wohn- und Badezimmerkultur die Rede ist, galt damals innerhalb der meinungsbestimmenden Bevölkerungsschichten nur das als „Kultur“, was einen „höheren Anspruch“ vertrat, also Dramen, Gedichte, hochstilisierte Romane, Opern, Symphonien, Kammermusikwerke, Ölgemälde oder Skulpturen, mit denen das zutiefst gedemütigte Bildungsbürgertum den als „kulturlos“ hingestellten „Amis“ beweisen wollte, dass es in der deutschen Vergangenheit nicht nur eine auf das Dritte Reich zusteuernde Populärkultur, sondern auch eine geradezu überbordende Fülle klassisch-romantischer sowie religiöser Werke gegeben habe, die zu den bedeutendsten Zeugnissen des Weltkulturerbes gehörten.1
Dementsprechend wurden „wir“, womit die 4,5 Prozent jener bildungsmäßig privilegierten Oberschüler gemeint sind, die damals wie ich in Kassel, der nördlichsten Stadt der US-amerikanischen Besatzungszone, lebten, in den Jahren 1946 bis 1950 ständig dazu angehalten, keine Aufführung von Goethes Iphigenie auf Tauris, Lessings Nathan der Weise, Mozarts Zauberflöte, Beethovens Fidelio, Wagners Tannhäuser, Pfitzners Kantate Von deutscher Seele oder Bachs Matthäuspassion zu versäumen, alle Symphoniekonzerte mit klassisch-romantischer Musik zu besuchen, Dramen von Goethe, Schiller und Kleist zu lesen, Werke...