Theater der Zeit

Klassenkampf und Naturgeschichte

von Wolfram Ette

Erschienen in: Recherchen 154: Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung – Fragen an Heiner Müller (01/2021)

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Heiner Müller ist ein Widerspruch. Er ist nicht, so lieb es der Wissenschaft wäre, auf eine Lehre herunterzubringen, die sich thesenartig und argumentativ schlüssig entfalten ließe. So, wie die beiden Deutschlands, in denen zu leben er beanspruchte, Deutschland »oben« und Deutschland »unten«, keine Einheit bilden, sondern einen Zusammenhang ökonomischer, ideologischer, kultureller, regionaler Differenzen, der sich zum Gegensatz von »oben« und »unten« und zum selbstzerstörerischen Widerspruch ausgewachsen hat, bildet dieser sehr deutsche Autor, in seinen eigenen Worten, ein »Ensemble«19, einen »Stellplatz der Widersprüche«20, eine Bühne, auf der Konflikte aufgeführt, nicht aber gelöst werden.

Jede Beschäftigung mit Müller – und das gilt für eine Theaterinszenierung ebenso wie für einen Essay oder eine wissenschaftliche Abhandlung – zieht aus dem überdeterminierten Knoten-Knäuel seines Werks einzelne Fäden heraus, versucht sie zu entwirren und freizulegen, ohne sie zu zerreißen. Anderes wird um dessentwillen abgeschattet, tritt in den Hintergrund, wird unsichtbar, ohne ganz zu verschwinden. In dieser Überdeterminiertheit gleicht Müllers Werk strukturell dem Mythos, der deswegen realistischer ist als die rationalisierenden Veranstaltungen der Religion, Philosophie und des Kunstbetriebs.21 Es bildet ab, was ist, und nicht, was sein soll. Das Gesetz dieses Werks ist Nichtidentität.

In diesem Sinne möchten wir die Unternehmung verstanden wissen, der sich das hier vorliegende Buch verdankt. Falk Strehlow trat 2017 mit der Frage an mich heran, ob ich Lust hätte, mit ihm einen Workshop/eine Diskussions- und Gesprächswerkstatt über Heiner Müller zu organisieren. Für mich hatte sich in den vergangenen Jahren das Interesse an Müller neu ausgerichtet, ich hatte wortwörtlich etliche »Fragen an ihn«, sagte also zu. Von Beginn an waren unsere Schwerpunkte nicht dieselben. Falk Strehlow verfolgte das Wiederaufleben einer Klassengesellschaft brutalen Zuschnitts, die in den Sozialstaaten West und Ost verhüllt/zurückgedrängt worden war. Ich selbst, durch die Westlinke geprägt, hatte eher als das gesellschaftliche Verhältnis das Naturverhältnis und damit die Gattungsperspektive im Blick. Die Klimaproteste liefen zu dieser Zeit auf Hochtouren, aber waren sie nicht schon zu spät? Hatte sich der Kapitalismus als Schlusspunkt der Geschichte der menschlichen Gattung, die immer beides war, Klassenkampf (von oben nach unten, von unten nach oben) und Ausbeutung der Natur, nicht mittlerweile in eine menschheitliche Selbstzerstörungsmaschine verwandelt, die den Planeten in den nächsten 200 – 300 Jahren von der parasitären Hochbegabung namens »Mensch« befreien wird? Was aber bedeuten angesichts der Möglichkeit dieser Perspektive Klassenkampf und emanzipatorische Politik?

Für alle diese Fragen bietet Müllers Werk einen starken Resonanzraum. Er hat den Begriff der Klasse so erweitert, dass ökonomisch nicht eindeutig zu identifizierende Unterdrückungsverhältnisse in ihn Eingang fanden: Verhältnis der Geschlechter, Rassismus, Kolonialismus. Vor allem hat er ihn aber mit der Geschichte des europäischen Rationalismus kurzgeschlossen – als einer Geschichte der Herrschaft über die eigene, »bedürftige und begehrende Natur«22, über Körper, Trieb und Affekt – die freilich nicht in dem Sinne als »Natur« zu verstehen sind, dass sie die unveränderliche Grundausstattung der menschlichen Gattung fix und fertig darstellen würden, sondern nur so, dass die Geschichte dieser »Natur« viel langsamer verläuft als die der Gesellschaft. »Natur« in diesem Sinne leistet zäh und langwierig den Revolutionen Widerstand, von denen keine gewonnen sein wird, die die Auseinandersetzung mit ihr – also mit Gewohnheiten, für die die Zeit seit der neolithischen Revolution nur ein Augenzwinkern ist – nicht einbezieht. Müller, so könnte man sagen, entdeckt die »Naturgeschichte« als Schauplatz, an dem gesellschaftliche Herrschaft und Herrschaft über die Natur zusammentreten.23

Nach meiner Einschätzung hat sich Müllers Beurteilung dieses Konfliktzusammenhangs im Laufe der Zeit verdüstert. Nicht von Stück zu Stück, nicht einfach linear; aber eine Tendenz ist erkennbar: In eins damit, dass der geschichtsphilosophische Blick über die Klassenverhältnisse hinausgeht und sich ins Naturgeschichtliche versenkt – spätestens ab Die Umsiedlerin scheint mir das der Fall zu sein –, wächst die Skepsis. Zu der Frage, ob die innere Natur befreit werden kann, tritt ab den 1980er-Jahren die nach der äußeren, deren schrankenlose Verwüstung Müller früh und hellsichtig registriert hat. Beides ist durch den neoliberalen Oktroi, der den »Kapitalismus ohne Beißhemmung« (Oskar Negt) als Dogma überall auf der Welt etablierte und Klassenverhältnissen zum Durchbruch verhalf, die sich von einer Menschheitsperspektive ebenso verabschiedeten wie von einer Aussöhnung unseres Verhältnisses zur Natur24, schlimmer, brutaler, selbstzerstörerischer geworden.

In alledem, wir wissen es, war Müller nicht depressiv. Dazu hat er viel zu viel gearbeitet; dazu hat ihm seine Arbeit viel zu viel Freude gemacht; dazu hat er die Konflikte, die ihren Motor und Treibstoff bildeten, viel zu sehr genossen. Und sein Humor war dazu viel zu ausgeprägt. Dürrenmatts Überzeugung, dass nach der Tragödie, »[i]n der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse«, wenn alle Träume von Versöhnung der tragischen Konflikte ausgeträumt seien, die Komödie komme25, war auch diejenige Müllers. Er hätte die Zuspitzung aller möglichen gesellschaftlichen Konflikte ebenso interessiert registriert wie die sich verdunkelnde Gattungsperspektive, die ein evolutionäres Überleben der Menschen in Frage stellt. Vielleicht nicht einmal, weil er es ja schon immer gesagt hatte; und schon gar nicht, weil er Lösungen parat hätte. Sondern weil nach der in vieler Hinsicht bleiernen Inkubationszeit der neunziger und nachneunziger Jahre nun die Karten auf dem Tisch und die Stoffe auf der Straße liegen.

Er fehlt. Gerade deswegen lohnt es sich aber, sich mit ihm zu beschäftigen, Fragen an ihn zu stellen, die von seinem Werk zurückgeworfen werden (oder auch nicht), vor allem aber nicht in die Starrkrämpfe pessimistischer Lähmung, eines Tanzens auf dem Vulkan, einer universalisierten Ironie26 oder eines esoterischen Eskapismus zu verfallen, sondern die Konflikte zu bejahen und mit ihnen zu arbeiten.

Wolfram Ette

1 Meier, Luise: MRX-Maschine, Berlin 2018, S. 19.

2 Müller, Heiner: Die Hamletmaschine, in: Heiner Müller Werke 4, hrsg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2001 (im Folgenden mit Sigle W und Band angegeben), S. 553.

3 Beispielsweise sind die Distinktionsmerkmale zwischen den Generationen, zwischen den Figuren HILSE (»der ewige Maurer«), ERSTER/ZWEITER/DRITTER JUGENDLICHER (die »Halbstarken«) und JUNGER MAURER konstitutiv für den Geschehensverlauf von Müllers Stück Germania Tod in Berlin, in: W4, S. 325 – 377.

4 Kemper, Andreas/Weinbach, Heike: Klassismus – Eine Einführung, Münster 2016, S. 54.

5 Müller: Programmheft: Der Lohndrücker, Deutsches Theater Berlin, Staatstheater der DDR, 1987/88, S. 10.

6 Mouffe, Chantal: Für einen linken Populismus, Berlin 2018, S. 35.

7 Ebd., S. 76.

8 Heiner Müller wird nicht müde, in seinen intertextuellen Referenzfeldern, z. B. in der Hamletmaschine (in: W4, S. 553) immer wieder den »kategorischen Imperativ« aufzurufen: »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie – Einleitung, in: Marx/Engels – Werke, Bd. 1, Berlin 1976, S. 385, Hervh. i. O.

9 Müller: Der Auftrag, in: W5, S. 40.

10 Müller: Der Horatier, in: W4, S. 84.

11 Neben den im Band vertretenen Teilnehmern und Teilnehmerinnen unserer Werkstatt waren im Sommer 2019 auch Patrick Eiden-Offe mit seinem Vortrag: »Klassenbewusstsein oder Klassismus? Vorschläge für eine Debattenkorrektur« sowie Natalie Driemeyer mit »Müllers ›Auftrag‹ im Spiegel des Welt-Klima-Theaters« Gesprächspartner unseres Werkstattgesprächs im Literaturforum im Brecht-Haus; die Herausgeber bedauern es außerordentlich, dass diese wichtigen Stimmen hier nun nicht enthalten sind; die gesellschaftlichen und privaten Herausforderungen des Jahres 2020 haben es den beiden Beitragenden nicht erlaubt, sich aktiv an unserem Buch zu beteiligen. Ein weiteres Highlight unserer Veranstaltung im Sommer vorletzten Jahres war die Buchpremiere von B. K. Tragelehns Roter Stern in den Wolken 2; dieser zweite Teil der bei Theater der Zeit erschienenen Aufsätze, Reden, Gespräche und Gedichte Tragelehns war ebenfalls eine große Stimme im Aufeinandertreffen von Meinungen und Ausdrucksformen. Ein ganz besonderer Dank gilt Kai Bremer; er war Mitveranstalter sowie ein inspirierender Diskussionsleiter und Moderator.

12 Weitling, Wilhelm: Der Urwähler. Eine Wochenschrift, redigiert von Wilhelm Weitling. Organ des Befreiungs-Bundes (1848), H. 1.

13 Pfaller, Robert: »Was sind für Sie Pseudolinke?«, in: Taz.Futurzwei (2019), H. 9, auch https://taz.de/Robert-Pfaller-im-Interview/!169159/ (letzter Zugriff 17.10. 2020).

14 Die »Verlagerung der Wir/Sie-Grenze in das jeweilige Subjekt hinein ist eine der tieferen Ursachen für die Entsolidarisierung und Zersplitterung der gegenwärtigen Gesellschaft«, diagnostiziert Bernd Stegemann, in: »Dreischritt des Populismus«, in: lfb Journal – Literaturforum im Brecht-Haus (2018), H. 2, S. 5. Siehe zum Begriff des »fragmentierten Charakters« auch: Theweleit, Klaus: Das Lachen der Täter: Breivik u. a. – Psychogramm der Tötungslust, St. Pölten/Salzburg/Wien 2015. Zu dem Begriffsfeld: ›individuelle Mehrfachidentität‹/›mehrdimensionale Diskriminierung‹ siehe Baer, Susanne/Bittner, Melanie/Göttsche, Anna Lena: Mehrdimensionale Diskriminierung – Begriffe, Theorien und juristische Analyse, hrsg. v. der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2010), in: http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Expertisen/Expertise_Mehrdimensionale_Diskriminierung_jur_Analyse.pdf?__blob=publicationFile(letzter Zugriff 25.10.2020).

15 Müller: Bildbeschreibung, in: W2, S. 118.

16 Vgl. Streisand, Marianne: »Heiner Müllers ›Der Lohndrücker‹ – Zu verschiedenen Zeiten ein anderes Stück«, in: Werke und Wirkungen – DDR-Literatur in der Diskussion, hrsg. v. Ingeborg Münz-Koenen, Leipzig 1987, S. 306 – 360.

17 Müller: Der Auftrag, in: W5, S. 35.

18 Malcolm X: Message to the Grass Roots (Rede), Michigan 10. November 1963, in: https://www.youtube.com/watch?v=uN_-AO36Afw (letzter Zugriff 17.10.2020).

19 Müller: Die Umsiedlerin, in: W3, S. 238.

20 Müller: Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von »Philoktet« am Dramatischen Theater Sofia, in: W8, S. 260.

21 Heinrich, Klaus: arbeiten mit ödipus. Begriff der Verdrängung in der Religionswissenschaft, Dahlemer Vorlesungen Bd. 3, hrsg. v. Albrecht Kücken u. a., Berlin/Basel 1993, S. 185.

22 Ebd., S. 258.

23 Adorno, Theodor W.: »Die Idee der Naturgeschichte«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1: Philosophische Frühschriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. a., Darmstadt 1997, S. 345 – 365.

24 Vgl. Latour, Bruno: Das Terrestrische Manifest, Berlin 2017.

25 Dürrenmatt, Friedrich: »Theaterprobleme« (1955), in: Theater-Schriften und Reden, hrsg. von Elisabeth Brock-Sulzer, Zürich 1966, S. 122.

26 Vgl. Schuller, Sebastian: »Zernichtbarer Schein und Formalismus des Ich. Ironie als Sprechweise linker Perspektivlosigkeit«, in: Zeit der Monster. Die ›neue‹ Rechte im Neoliberalismus, das Scheitern linker Kritik und Möglichkeiten emanzipatorischer Praxis in Kunst und Akademie, Ochsenfurt 2018, S. 121 – 158.

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