Literarische Zeugenschaft zwischen Fakt und Fiktion
Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel) und Jonathan Littells Die Wohlgesinnten
von Tamar Pollak und Andrea Hensel
Erschienen in: Recherchen 109: Reenacting History: Theater & Geschichte (02/2014)
Tamar Pollak und Andrea Hensel
LITERARISCHE ZEUGENSCHAFT ZWISCHEN FAKT UND FIKTION
Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel) und Jonathan Littells Die Wohlgesinnten
Literarische Zeugenschaft
Bei Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel)1 und Jonathan Littells Die Wohlgesinnten2 handelt es sich um zwei Werke, die auf inhaltlicher, struktureller wie auf ästhetischer Ebene zunächst erhebliche Differenzen aufweisen, was eine mögliche Parallellektüre zu erschweren scheint. Betrachtet man Jelineks Theatertext und Littells Roman jedoch genauer, so kristallisiert sich ein wesentlicher Aspekt heraus, der die beiden Werke verbindet und Historiographie und Kunst auf exemplarische Weise verknüpft: Gemeint ist eine Praxis der literarischen Zeugenschaft und damit einhergehend ein Verständnis literarisch erzählter Erinnerung, welche beide Werke mittels unterschiedlicher künstlerisch-literarischer Verfahren zum Ausgangs punkt nehmen. Zugleich wird literarische Zeugenschaft als eine ästhetische Strategie gefasst, die jeweils die paradoxe Figur des (literarischen) Zeugen thematisiert, diese durch ein Wechselspiel aus Fakt und Fiktion konstituiert und dadurch in beiden Werken einen spezifischen Zugang zu Geschichte sowie eine konkrete Erfahrung von Geschichte ermöglicht.
Sowohl Rechnitz (Der Würgeengel) als auch den Wohlgesinnten liegen real-geschichtliche Ereignisse und Personen zugrunde. In beiden Fällen geht es allerdings weder darum, in einem moralisch intendierten Bestreben über das aufzuklären, was man ‚Geschichte‘ nennt, noch ist es das Ziel, lediglich...