Vorab
von Stephan Wetzel
Erschienen in: Michael Simon – FERTIG gibt’s nicht – Bühnenbild. Prozesse (12/2021)
Wozu ein Buch über die eigene Theaterarbeit? Theater ist doch live. Das Buch zeigt nur Fotos, Momentaufnahmen. Kann es mehr sein als ein Rückblick? Kann man damit auch nach vorne schauen? Einen offenen Prozess zeigen?
Mit solchen und ähnlichen Fragen kam eines Tages Michael Simon, vom Verlag Theater der Zeit auf die Idee gebracht, auf mich zu: Ob ich Lust hätte, mich an einem Buch über seine Bühnenbilder als dramaturgischer Mitarbeiter bzw. Herausgeber zu beteiligen. Ja, hatte ich. Aber zunächst mussten wir Antworten auf seine Fragen finden – oder besser: uns an die Antworten herantasten.
Also machten wir, was wir schon öfter für Inszenierungen gemacht haben: Spazieren gehen, die Landschaft anschauen, uns über Gott und die Welt unterhalten, erste Gedanken austauschen, Wein trinken, dabei jeden Druck vermeidend, um in einen Zustand von Kreativität zu kommen.
Michael ist ein Meister darin, im besten Fall entspannt fokussiert zu sein und die Dinge kommen zu lassen. Er ist bereit, auch erst mal gut funktionierende Lösungen für Bühnenbild- bzw. Inszenierungsfragen zu verwerfen, wenn sie seinem künstlerischen Instinkt oder seinen Ansprüchen nicht genügen. Seit unserer ersten Zusammenarbeit bei Jelineks „Prinzessinnendramen“ 2005 in Karlsruhe habe ich selten jemanden erlebt, der so offen, sich selbst hinterfragend, prozesshaft und teamorientiert arbeitet wie er und dabei die künstlerischen Energien aller Beteiligten freisetzen kann.
Für das Buch kristallisierte sich allmählich eine Idee heraus: Es sollte eine Art Arbeitsbuch werden, das in seiner Form den Prozess des künstlerischen Arbeitens von Michael widerspiegelt. Und das nicht nur Highlights, sondern auch Umwege und Irrtümer dokumentiert, um zu vermitteln, dass das prozesshafte Arbeiten nie endet: Fertig gibt’s nicht. Der Titel stand, der Rest ein vager Plan.
Für diese Art von Buch ist die Form, das Layout entscheidend. Dafür kam schon früh die Grafikerin und Bühnenbildnerin Simone Manthey ins Team, die nicht nur grafisch, sondern auch inhaltlich wichtige Impulse einbrachte. Im Laufe eines Jahres trafen wir uns immer wieder, sprachen über einzelne Produktionen, machten Sprachaufnahmen unserer Unterhaltungen und verschriftlichten die Gespräche. Schließlich kristallisierte sich eine Struktur heraus, die tauglich schien. Im Mittelpunkt stehen Michaels zentrale Arbeitswerkzeuge, seine Gedanken-Räume werden zu Kapiteln: Licht, Bewegung, Worte, Konstruktion/ Dekonstruktion, Video und Material(ität). Diese Einteilung hebt Teilaspekte in den einzelnen Produktionen heraus. Es gibt Überschneidungen, Gedankensprünge und Parallelen, auf die verwiesen wird, im Text und grafisch durch Pfeile.
Eine Frage blieb: Wie können die Abbildungen, die im Buch ja statisch sind und die Bewegung und den Wechsel der Szenarien nicht wiedergeben können, lebendig werden? Leila Mekacher entwickelte eine App, die die Bühnenbildfotos im Buch mit Videoclips verlinkt. Das lässt die Bilder tanzen, das Buch lebt.
Die ursprüngliche Gesprächssituation sollte im Buch keine Rolle mehr spielen, sondern als Gerüst für Michaels eigenen Text und persönliche Schwerpunkte dienen. So entstand eine „Erzählung“, die die künstlerischen Prozesse transparent macht. Im zweiten Drittel der Arbeit am Buch stieß noch Stephan Wetzel dazu, der das Entstandene mit Kritik und Vorschlägen ergänzte. „Das ist ein langes Wort: Immer!“, sagt Leonce zu Rosetta in Büchners Lustspiel, als seine Liebe endet. Genau 14,65m lang ist es auf Michael Simons Bühne. Die kolossalen Buchstaben füllen das Portal von rechts nach links und von oben nach unten, sie vergittern den Blick in den Raum dahinter, sie miniaturisieren die Schauspieler. Auf diese Weise den Text beim Wort zu nehmen, ist zu einem Markenzeichen in der Arbeit von Michael Simon geworden, verweist aber über die Wort-Bilder hinaus auf grundlegende Fragen bei der Raumfindung: Auf welchen Gegenstand trifft das Licht, gegen welche Wand rennt ein Körper, welchem Körper begegnet ein Text, welcher Text wird zum Gegenstand? Der Zusammenstoß erst schafft die Sichtbarkeit der verschiedenen Elemente, macht sie physisch, unhintergehbar, erlebbar.
Dass sich aus solchen bei der Befragung des Raums entstandenen Gedanken andere dramaturgische Zwangsläufigkeiten ergeben als aus braver Text- Hermeneutik, habe ich in Michael Simons Dresdner „Werther“-Inszenierung gelernt. Eine Wand in Form einer blendend weißen steilen Treppe verschloss am Ende des Abends den Bühnenausschnitt. Geplant und gebaut war sie, bevor der Ablauf der Szenen gefunden war, eine Voraus-Setzung, gegen die sich das Spiel und die Geschichte behaupten mussten. Wie vereinzelte Schriftzeichen wirkten die Darsteller in ihren schwarzen, historische Silhouetten zitierenden Kostümen, festgeschrieben auf dem Weiß und ohne Spielraum. Aus der Weite, in der zuvor alles möglich war – von tänzerischer Bewegung bis zu entfernten Video-Traumbildern – wurde ein schmaler Grat, von dem das Werther-Gefühl unweigerlich abstürzen musste.
Ob eine Form des Theaters, das im fortwährenden Prozess seine ästhetischen Mittel reflektiert, auch politisch sein kann, ist natürlich eine rhetorische Frage. Sie ist im idealen Fall sogar auf eine Art politisch, die nicht kalkuliert ist, die unversehens den Assoziationsraum Bühne sprengt. Das Spiel mit den Wort-Tafeln, das Jelineks Textflächen begehbar macht oder aufrecht stellt und zum Tanzen bringt, wird zum Kommentar auf eine Medienmaschine, die uns schon morgens auf dem Weg vorbei am Zeitungs-Kiosk – klassischerweise mit Reizworten in großen schwarz-roten Überschriften auf weißem Papier – Angst einjagen will. Aber auch darum geht es eigentlich nicht. Es geht um einen glücklichen Gedanken, den Gedanken, dass es möglich ist, ein Instrumentarium zu sammeln – Michael Simon bezieht es zu einem großen Teil aus seiner Arbeit mit William Forsythe – , das zugleich der analytischen Neugier dient und dem Gelingen der Neufindung. Das hört dann nicht auf.