Magazin
Geschichten vom Herrn H.: Über Lügenpresse und Theaterwahrheit im außermoralischen Sinne
von Jakob Hayner
Erschienen in: Theater der Zeit: Bye, Bye, Europe (02/2019)
Nichts ist mehr, wie es war. Eine ganze Branche geht in Sack und Asche, Redakteure und Journalisten prangern unaufhörlich die Schwierigkeiten ihres Berufs an, die verborgenen Abhängigkeiten und Rücksichtnahmen, den Erfolgsdruck, die Fixierung auf human touch stories, die brutale Aufmerksamkeitsökonomie, die Macht des Geldes und all das, was dem Ethos einer nichts als der Wahrheit verpflichteten Presse entgegensteht. Nun, ganz so hat es sich dann doch nicht verhalten, nachdem Mitte Dezember bekannt wurde, dass im renommierten Spiegel über Jahre hinweg die schönsten Lügenmärchen veröffentlicht worden waren, was deren Verfasser zu einem mit Preisen überhäuften Starreporter hatte werden lassen, der sich der Anerkennung der ganzen Branche sicher sein konnte. Noch die Nachricht selbst präsentierte Der Spiegel im reißerischen Stile einer sensationslüsternen Enthüllungsgeschichte, als ob nicht gerade das Teil des Problems wäre. Der Fokus liegt allein auf dem Lügner – nicht aber auf all jenen, die seine Lügen glaubten und glauben wollten, sie also erst möglich machten. Ein Einzelfall? Wie bei dem spektakulären Prozess gegen einen jungen Star-Trader von Goldman Sachs, der stellvertretend für die verbrecherischen Methoden der Finanzindustrie verurteilt wurde? Geändert hat sich seitdem wenig, auch das neoliberale Denken zeigt sich unerschüttert.
Die betreffenden Spiegel-Reportagen folgten einem weitverbreiteten Muster:...