Thema
Archipel Moskau
von Olga Galachowa
Erschienen in: Theater der Zeit: Archipel Moskau – Ein Theaterreport (12/2012)
Wie sich in Zeiten der Lüge das Theater der russischen Hauptstadt von der Bühnenillusion entfernt, um das wahre Leben zu dokumentieren
Von Olga Galachowa. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt.
Die Theaterszene in Moskau ist ein eigener Archipel in Russland: Hier sind die meisten Theater konzentriert, hier finden fast das ganze Jahr über die unterschiedlichsten Theaterfestivals statt, vom renommierten Internationalen Tschechow-Festival bis hin zu diversen kleineren, deren Kuratoren Einblicke in das europäische Theater, in seine radikalen Formen oder im Gegenteil in den Fortbestand von Traditionen geben wollen. Moskau ist mit Theater übersättigt. Das Hauptstadtpublikum ist verwöhnt und anspruchsvoll. Allein im Oktober 2012 starteten gleichzeitig drei internationale Festivals, im November werden drei weitere folgen. Daneben bringen die über dreihundert in Moskau ansässigen Theater in jeder Spielzeit mindestens je zwei Premieren heraus, das sind insgesamt rund 600 neue Aufführungen im Jahr. Eine solche Intensität ist wahrscheinlich für viele Hauptstädte der Welt typisch, aber was Moskau angeht, so ist die Stadt interessanter Weise weit mehr Theater- als beispielsweise Filmmetropole. Und das nicht nur wegen der schieren Menge an Aufführungen, sondern weil sich in diesem gewaltigen Wirbel noch immer kleine Inseln „echten“ Theaters behaupten.
Als Erstes unter den Ersten könnte man das Studio von Pjotr Fomenko (1932-2012) bezeichnen. Der herausragende Theatermann ist in diesem Sommer verstorben, und sein Tod ist für die Moskauer Theaterszene ein großer Verlust. Pjotr Fomenko genoss, das kann man ohne Übertreibung sagen, unumstrittene Autorität. In den letzten zwanzig Jahren des Übergangs, da viele renommierte Theater ihr Credo einbüßten und von einem Extrem ins andere fielen, um Zuschauer anzulocken, blieb Pjotr Fomenko unbeirrt seinem einmal formulierten Grundsatz treu: „Das Theater hat nichts mit dem Leben zu tun, es ist ein Zufluchtsort für Kreative, die unernst Ernstes schaffen.“ Fomenko verpackte das Drama gern in ein Spiel, hüllte tragische Inhalte in scheinbar Unernstes, milderte existenzielle Schrecken durch Leichtigkeit und Unterhaltung. Egal, was Fomenko an seinem Theater inszenierte, ob Tschechows „Drei Schwestern“, „Triptychon“ nach Werken von Alexander Puschkin, „Krieg und Frieden. Beginn des Romans“ und „Familienglück“ nach Prosawerken von Lew Tolstoi oder „Ein absolut glückliches Dorf“ nach Werken des zu Sowjetzeiten verbotenen Autors Boris Wachtin – durch die Aura des Theaters hob er jedes didaktische Pathos auf, bekräftigte aber eben mittels des Theaters das Pathos des Lebens. Er wusste, dass sich das Erhabene in unserer zynischen Zeit nur bewahren lässt, indem man die ewigen Werte durch die turbulente szenische Illusion bestätigt. Das Recht auf Erhabenes – auf Träume und Phantasie, mitunter auch auf Wahn – überließ Fomenko ganz dem Spiel, das für ihn Beschwörung des Lebens und der existenziellen Wahrheit war.
Fomenkos szenische Illusionen waren nie Glasperlenspiel, er glaubte an das Theater als eine Macht, die den Menschen tatsächlich besser machen kann. Wie Puschkin suchte er nach einem goldenen Mittelweg zwischen Leichtigkeit und der Schwere des Ewigen. Er sah die Aufgabe des Theaters darin, dem armen Menschen unserer Tage wiederzugeben, was er verloren hat – die Fähigkeit zu Liebe, zu Mitleid und zu Gefühlen. Fomenkos Theater reanimierte den Humanismus im Menschen. Die letzte Arbeit des Meisters war ein Stück nach Michail Bulgakows „Theaterroman. Aufzeichnungen eines Toten“, das Pjotr Fomenko als Stück über das Theater an sich inszenierte. Objekt der Ironie ist darin wie im Roman das Kult gewordene Moskauer Künstlertheater und seine heiligen Kühe, allen voran Stanislawski.
Aus einer Luke im Bühnenboden taucht das gesamte Büro des Regisseurs auf, in der Mitte ein Sofa, auf dem, teilnahmslos in die Ferne blickend, der Gründervater ruht – ein Juwel, eine menschliche Reliquie, in eine Decke gewickelt: Iwan Wassiljewitsch (ein Abbild Stanislawskis). Edles Grau im Haar, mit dem berühmten Kneifer und goldener Fliege. Ehrfürchtig bebend nähert sich ihm der unerfahrene Autor Maksudow (Abbild des Autors Bulgakow). Er liest dem Meister sein Bürgerkriegsstück „Schwarzer Schnee“ vor. Iwan Wassiljewitsch nimmt den Text ausschließlich aus der Sicht des Regisseurs wahr. Er hört nicht zu, er kalkuliert. Als Maksudow die Liste der handelnden Personen verliest, ist der Meister bestürzt, seine Sorge äußert sich in kargen, aber vielsagenden Interjektionen. All diese „hm-hm-hm“, „oh-oh-oh“, „ph-ph“ bilden eine ganze Partitur psychologischer Nuancen. Der Gründervater denkt nicht an das Stück, er denkt nur an seine Truppe, an das Gezänk, das um die Besetzung der Rollen entstehen wird. Und er macht sich energisch daran, das Stück zu verbessern! Die anfangs schüchterne Verwunderung des Autors ob der seltsamen Verbesserungsvorschläge des Patriarchen erreicht am Ende der Szene namenlose Ausmaße. Ein Dolch anstelle eines Gewehrs, eine Mutter anstelle der jungen Heldin, die Massenszenen gestrichen – und die Schlacht und der Tod des Helden sollen nur erzählt, nicht gezeigt werden. „Wir rebellieren nicht gegen die Regierung“, sagt die Tante des Meisters später belehrend zu dem jungen Dramatiker.
Bulgakow hat seine Theatererfahrung im Künstlertheater „Aufzeichnungen eines Toten“ genannt, doch das ist nur eine satirische Redewendung. Der Autor Maksudow stirbt im Stück nicht. Das Theater beerdigt den Neuling zwar fast, so etwas kommt vor, tötet ihn aber nicht. Maksudow ist lediglich an einer Prüfung durch eine andere Realität gescheitert, an der Folter durch das teuflische Theater, in dem eine eigene Logik gilt – wenn man das denn als Logik bezeichnen kann. Doch in eben dieser merkwürdigen Institution, in der sein Stück „Schwarzer Schnee“ so kunstvoll hingerichtet wird, überkommt den Autor die Inspiration für seinen künftigen großen Roman „Der Meister und Margarita“. Halt nur aus, das ist die lebensspendende Natur des Theaters, konstatiert der Regisseur.
Pjotr Fomenko stellte durch seine Autorität, durch seine große Erfahrung als Regisseur und Pädagoge eine Verbindung zwischen den Zeiten her, zwischen dem Menschen der klassischen Literatur und dem der Gegenwart. Er war der letzte Mohikaner. Mit ihm ist eine Epoche unwiderruflich zu Ende gegangen.
Blutleere Schatten
Dass eine Epoche zu Ende geht und eine neue, unruhige Zeit anbricht, spürt auch ein Regisseur einer anderen Generation, Rimas Tuminas (Jg. 1952), der 2007 als künstlerischer Leiter des berühmten Moskauer Wachtangow-Theaters aus Litauen geholt wurde. Tuminas, der seinerzeit in Moskau Regie studiert hatte, verließ sein Kleines Theater, das er in Vilnius gegründet hatte, um sich ganz auf das ihm anvertraute Theater in Russland zu konzentrieren. In seiner letzten Inszenierung anlässlich des Jubiläums des Wachtangow-Theaters, „Der Hafen“, nimmt er zusammen mit den ältesten Schauspielern Abschied von der großen Zeit des Theaters, in dessen Mittelpunkt der große Schauspieler stand. Tuminas zelebriert das Jubiläum im Grunde als Requiem auf eine untergehende Theaterform.
Der erste große Erfolg des Regisseurs in Moskau war seine Inszenierung von Tschechows „Onkel Wanja“ (2009), die sämtliche renommierten Theaterpreise des Landes bekam. Tuminas hat dieses preisgekrönte Stück ungewöhnlich und mutig als Geschichte vom Leben und Sterben eines Provinzsonderlings inszeniert, der im mystischen Raum Russland verloren ist. Hier gibt es Wald- und Wassergeister, hier herrschen nachts Vampire. Hier ist ein warmes Dach besonders viel wert. Das im Wald verlorene Gut ist wie in einen leichten Nebelschleier gehüllt. Es gibt keinen klar umrissenen Horizont, keinerlei Anzeichen von Gedeihen. Es ist eher eine Zeit des Vergehens. Im Hintergrund der Bühne hockt in nächtlicher Dunkelheit die Kopie eines antiken Löwen in originaler Größe, jedoch ohne sein übliches Pendant. Diese Verletzung des architektonischen Kanons macht das alltägliche Detail des Landguts beinahe zu einem mythologischen Symbol des Alten Ägyptens, mit dem Unterschied, dass auch das Tor selbst fehlt. Es gibt nichts zu bewachen, und der schwarz schimmernde Löwe wirkt nicht wie ein Torhüter, sondern wie der Herrscher über diese düsteren Felder und Weiten, die sich von den Menschen nicht in Besitz nehmen lassen und ihnen die Freiheit rauben. Der steinerne Löwe beobachtet mit einer Art mystischer Häme, wie die Geiseln seiner Macht, die reine Sonja und auch Onkel Wanja selbst, den Verstand verlieren, ohne es zu merken. Die Kinderfrau und der verarmte Gutsbesitzer Telegin sind bereits unwiderruflich verrückt und zu deprimierenden Karikaturen geworden.
Diese blutleeren Schatten verleihen dem Leben im Wald den Geist des Verfalls. Blinzelnde Augen, die weißen Wimpern eines greisen Kindes, der schwerfällig-trippelnde Gang eines unsicheren Menschen, der kein Jüngling mehr ist, aber auch kein Mann mehr – das ist Sergej Makowizkis Iwan Petrowitsch Wojnizki. Er schwadroniert über seine Liebe zu Jelena Andrejewna, aber seine Worte sind ohne männliche Sinnlichkeit. Er ist impotent. Es ist bloßes Geschwätz, das niemand in seiner Umgebung ernst nimmt. Er ist unfähig, eine Frau in Besitz zu nehmen, er kann nur endlos über seine Liebe zu ihr plappern. Mutig setzt der Regisseur in der Tschechowschen Klassik eigene Akzente. Onkel Wanja stirbt in seiner Inszenierung nach einer Spritze, die Astrow ihm verabreicht.
Sonja schminkt ungeschickt Onkel Wanjas totes Gesicht: Sie öffnet seine Augen, formt die erkalteten Lippen zu einem albernen Lächeln. Ihr finales Monolog-Gebet über den Himmel voller Diamanten und die Zeit der Barmherzigkeit, das Wojnizki noch hört, birgt keinerlei Trost. Sonja wird von verzweifelter Hysterie überwältigt, und das berühmte Gebet wird zu einer aggressiven Glaubensbeschwörung, einer Anrufung des Glücks, das es nicht gibt und nicht geben wird, und eines Sinns, der verloren ist und nicht wiederkommen wird. Es scheint nicht mehr viel zu fehlen, bis Sonja zum Maschinengewehr greift. Aber Onkel Wanja braucht keine Worte über den Sinn des Seins mehr, der traurige Narr verlässt die Bühne des Lebens als Narr. Lebt euer Leben ohne mich zu Ende, wie ihr es vermögt.
Experten für Spezialeffekte und Experten des Alltags
Die gesamte Theatergeschichte Russlands im 20. Jahrhundert stand im Zeichen der dominierenden Rolle der Regie, die sich neuen Herausforderungen stellte und revolutionäre Lösungen bot. Die Regisseure Fomenko und Tuminas gehören zur Sowjetzeit, in der sie sich entwickelten und arbeiteten. Bleibt die Frage, wie es um die neue Generation von Regisseuren steht, um diejenigen, die die UdSSR noch erlebt haben, mit der Umsetzung ihrer Ideen jedoch erst in der Perestroika- und Postperestroika-Zeit begannen. Hier sind einige für das zeitgenössische russische Theater wichtige Namen zu nennen: Sergej Shenowatsch (Jg. 1957) und sein Studio für Theaterkunst sowie der Petersburger Regisseur Andrej Mogutschi (Jg. 1961), der heute erfolgreich am Alexandra-Theater in Sankt Petersburg arbeitet, unter der Ägide des künstlerischen Leiters und großartigen Regisseurs Valeri Fokin (Jg. 1946), der das Gesicht des russischen Theaters der letzten dreißig Jahre mit geprägt hat. Sergej Shenowatsch ist im ewigen russischen Streit zwischen Traditionalisten und Erneuerern eher den Traditionalisten zuzuordnen. Er ist der Lehre von Stanislawski treu, ihm ist das Theater des Wortes wichtig – vielleicht werden deshalb an seinem Studio für Theaterkunst oft Prosatexte inszeniert, darunter auch seltene, noch nicht abgegriffene, wie „Ein heruntergekommenes Geschlecht“ von Nikolai Leskow. Und wenn er schon mal Tschechow inszeniert, dann dessen intime „Notizbücher“. Shenowatsch kommt aus dem Kreis um Pjotr Fomenko, und zusammen mit seinen Schülern macht er sich stark für ein Theater, in dem der Mensch Erhellung für sein Dasein sucht. Selbst Wenedikt Jerofejews abseitiges Prosastück „Die Reise von Moskau nach Petuschki“ inszeniert er als Flucht auf der Suche nach einem höheren Sinn.
Andrej Mogutschi hingegen gibt dem Innovativen viel Raum, dem Visuellen im Theater. Die Bühne ist für ihn in gewissem Sinne Camera obscura und Kinderbaukasten in einem. Er liebt Großes und Kraftvolles auf der Bühne, riesige Puppen, Videoclips, das Spiel mit Dimensionen. Dennoch opfert er den Bildern nie den Sinn, ob er nun einen klassischen Gogol-Text inszeniert wie „Die Iwans“ (nach der Erzählung „Wie sich Iwan Iwanowitsch mit Iwan Nikiforowitsch zerstritt“) oder das moderne Drama „Isotow“ nach einem Stück von Michail Durnenkow. Hinter der raffinierten Visualität und der Verliebtheit in die Form verbergen sich stets wichtige menschliche Fragen wie die, warum die Menschen so erbittert entzweit sind, warum sich selbst die einander am nächsten Stehenden nicht verstehen, warum sie einander so blindlings verletzen.
Eine andere wichtige Figur des modernen russischen Theaters ist der Regisseur und Maler Dmitri Krymow (Jg. 1954), der, ein seltener Fall, von der bildenden Kunst zum Theater gekommen ist. Mit Bühnenbildstudenten und Schauspielern kreiert er in seinem Laboratorium Stücke, in denen von der Phantasie des Bühnenbildners ins Leben gerufene Figuren zu szenischen Bildern werden. In Krymows Inszenierungen wird das Stück vor den Augen der Zuschauer demonstrativ zusammengesetzt und auseinandergenommen; durch den Einsatz von Sperrholz, Papier, Stoff und Dingen vom Flohmarkt wird das Handgemachte betont. So identifiziert Krymow in seiner letzten Inszenierung, die auf dem Festival in Edinburgh ausgezeichnet wurde, seine Theatertruppe mit den ungeschickten Handwerkern aus Shakespeares „Sommernachtstraum“. Das Stück heißt allerdings im Zusatz „Wie es euch gefällt.“ Sie alle sind wie Shakespeares Figuren Zimmermann, Weber und Schneider, statt eines Bälgenflickers gibt es einen Experten für Spezialeffekte, den Kesselflicker ersetzt ein Bühnenschweißer. Krymow stülpt die Welt hinter den Kulissen nach außen, enthüllt dem Zuschauer, aus welchen Spezialeffekten Theater entsteht, wie eine Inszenierung gemacht ist und dass nach der Aufführung nur ein Haufen Bühnenbildteile zurückbleibt. Ob Amateure oder Profis – sie alle wissen, was sie am Ende erwartet, nach den unglaublichen Anstrengungen, die ein Spektakel erfordert. Krymows Inszenierungen enthalten stets eine traurige Ironie, eine Wehmut ob des Verlusts des kindlichen Blicks auf die Welt, die Angst vor Offiziösem und vor Unaufrichtigkeit im Theater.
Das Bild des zeitgenössischen Theater wäre unvollständig ohne einen weiteren Regisseur, dessen Inszenierungen in vielen Moskauer Theatern laufen – Juri Butussow (Jg. 1961), einen Vertreter der Petersburger Regieschule, der in Moskau arbeitet, vor allem am Theater Satirikon, in dem er sich in mehreren Spielzeiten als modern denkender Regisseur profilierte. Seine letzte Arbeit an diesem Haus kann man ohne Übertreibung als revolutionär bezeichnen – Tschechows „Möwe“. In dieser über vierstündigen Inszenierung sind alle Karten bunt gemischt. Diejenigen, die dem Alter nach die Arkadina spielen müssten, spielen die Nina, und umgekehrt. Butussow zerstört die gängige Vorstellung von Besetzung, von der Entsprechung zwischen der Figur und dem Alter des Darstellers. Er postuliert eigene Regeln und Methoden für das Spiel. Die Schauspieler spielen Schauspieler, die die Figuren der „Möwe“ spielen. Der Regisseur stellt die Konvention aus, darum wird zum Beispiel die Schlussszene der Begegnung zwischen Nina und Treplew drei Mal gespielt. Von einer Saretschnaja, die den Beruf der Schauspielerin mit einem der ältesten Gewerbe gleichsetzt – da brauchen die Kaufleute sie gar nicht zu belästigen – bis hin zu einer scheuen, am Leben zerbrochenen Frau. Mal sehen wir eine heruntergekommene Colombina, die so tief gefallen ist, dass sie sich nie mehr erheben wird, mal haben wir die klassische Nina vor uns, die Bekanntschaft mit der Grobheit gemacht, ihre Empfindsamkeit aber dennoch nicht eingebüßt hat. Zuvor wird diese Szene auch von anderen Darstellern gespielt. Das Theater ist eine große, ununterbrochene Probe, und das Leben ein langer Prolog an der Schwelle des Seins.
Butussow beweist stets äußerste intellektuelle Verantwortung, er kommt dem Zuschauer keinen Deut entgegen. Jede Inszenierung entsteht unter Qualen, und qualvoll ist auch der Probenprozess für die Darsteller. Doch diese Qualen sind gerechtfertigt, denn Juri Butussow unterhält mit beneidenswerter Konsequenz einen intensiven Dialog mit dem Zuschauer, egal, ob seine Stücke auf der Bühne des Künstlertheaters laufen („Hamlet“), am Satirikon („König Lear“) oder am Wachtangow-Theater („Maß für Maß“).
Eine eigene Richtung des zeitgenössischen russischen Theaters ist das Neue Drama, über das noch immer unentwegt gestritten wird. Ins Leben gerufen wurde diese Bewegung von mehreren Idealisten. Wichtigste und quasi Schlüsselfigur ist Michail Ugarow (Jg. 1956), ein Dramatiker, Regisseur und Schauspieler, der gemeinsam mit mehreren Dramatikern das Teatr.doc gegründet hat. Spielstätte ist der Keller eines Hauses in der Moskauer Altstadt unweit der zentralen Twerskaja. In dem kleinen Saal mit rund 60 Plätzen werden Stücke gespielt, die stets provozieren. Viele halten dieses Theater für eine politische Protestbühne. Tatsächlich finden hier Solidaritätsaktionen für Pussy Riot statt, hier läuft das Stück „Eine Stunde achtzehn Minuten“ über den Anwalt Sergej Magnitski, der laut Ugarow genau so lange ohne medizinische Hilfe in seiner Zelle lag und starb. Hier wurde Dario Fos Stück über Berlusconi auf die politischen Verhältnisse Russlands übertragen und heißt „BerlusPutin“. Hier läuft das Stück „Zwei in deinem Haus“ über den Hausarrest des Anführers der weißrussischen Opposition Wladimir Nekljajew. Doch neben der politischen Richtung verfolgt dieses bedeutende Moskauer Theater auch einen anderen äußerst wichtigen Ansatz. Es reagiert auf die Lüge und alle ihre Schattierungen in den verschiedensten Sphären des Lebens, vom Casting für Fernsehserien über das wahre Leben von Migranten und Gastarbeitern in Moskau bis hin zur Darstellung gewöhnlicher Menschen mit ihrer realen, mit Obszönitäten gespickten Sprache wie in „Das Leben ist gelungen“ nach einem Stück von Pawel Prjashko (eine gemeinsame Inszenierung von Michail Ugarow und Marat Gazalow). Das Teatr.doc ist eine Kampfansage an Glanz und Glamour und beharrt provokant auf dokumentarischem Realismus. Der Slogan auf seiner Website lautet: „Teatr.doc ist ein Theater, in dem nicht gespielt wird“. Mit glühendem Eisen wird hier jeder schauspielerische Ansatz zu Theatralem ausgemerzt. Auf der Bühne dieses Moskauer Kellers steht der Mensch von der Straße, der Mensch aus der Menge, an den Rand des Lebens gedrängt durch die allgegenwärtige Lüge, die er wütend ablehnt, weil er nach Aufrichtigkeit strebt.
So verläuft das Leben des Theaterarchipels Moskau heute zwischen den Polen Authentizität und Imitation der Realität – und damit der Wahrheit. Es bleibt zu hoffen, dass das Authentische überlebt in einer Zeit, die zu vielfältigen Schattierungen der Lüge animiert. Hoffen wir, dass die Menschen nicht mit der Zeit den Geschmack des Authentischen vergessen und dass sie auch in Zukunft teures Krabbenfleisch von billigem Seelachs mit Krabbengeschmack unterscheiden können.