Theater der Zeit

Thema

Adam und Steve

Die künstlerischen Leiter des New York Theatre Workshops Linda S. Chapman und James C. Nicola im Gespräch mit Paul Tischler über institutionalisiertes Betteln und das Unternehmertum des Künstlers

von James C. Nicola, Linda S. Chapman und Paul Tischler

Erschienen in: Theater der Zeit: Das Rätselwesen – Die Schauspielerin Patrycia Ziółkowska (11/2012)

Assoziationen: Nordamerika Dossier: USA

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Frau Chapman, Herr Nicola, viele Theaterleute, mit denen ich in Deutschland gesprochen habe, wissen nicht viel über das derzeitige Theater in den Vereinigten Staaten. Wie würden Sie die Szene beschreiben? Und wie positioniert sich der New York Theatre Workshop in diesem Kontext?

Linda S. Chapman: Wenn ich etwas über den New York Theatre Workshop sagen müsste, wäre es, dass wir ein Kunsttheater sind. Eines der letzten! Dem ursprünglichen Auftrag, kommerziell unabhängig zu sein, folgen nur noch wenige gemeinnützige Institutionen wie Theater, Museen, Büchereien, fast alle haben die Seite gewechselt. Bei uns hingegen steht die Kunst im Vordergrund, weswegen wir auch Künstler bei der Entstehung ihrer Arbeiten unterstützen. Manche werden von uns für die Öffentlichkeit produziert, aber der Fokus liegt tatsächlich erst einmal auf der künstlerischen Förderung. Das ist etwas Besonderes. Es gibt zwar in den USA Institutionen wie das von Robert Redford gegründete Sundance-Institut für Dramatiker und Drehbuchautoren sowie das O’Neill Centre für Dramatik, aber kaum Theater, die beides betreiben: produzieren und fördern.

James C. Nicola: Ein weiterer Aspekt, der uns von anderen Theatern abhebt, ist, dass wir internationale Beziehungen pflegen. Die meisten amerikanischen Theater sind sehr verschlossen und ängstlich, aber das ist typisch amerikanisch. Amerikaner wollen nicht über den Tellerrand schauen.

Zumal jetzt, wo das ganze Land mit den Wahlen im November beschäftigt zu sein scheint. Ist die derzeitige politische Situation des Landes ein Thema bei Ihnen auf der Bühne?

Chapman: Wir sind natürlich daran interessiert und diskutieren viel, aber es gibt noch keine Stücke, die sich damit auseinandersetzen. 

Nicola: Wir arbeiten jedoch gerade an einem Projekt, bei dem ein Autor und eine Journalistin auf die hiesigen Wurzeln der Demokratie schauen, deren Entwicklung ja 1776 mit der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung begann: Was waren die Ideen der Leute, die die Verfassung 1787 geschrieben haben? Was der genaue Wortlaut? Die beiden sprechen und diskutieren in dem Stück über die Anfänge, über die Bedürfnisse der Leute und bewegen sich dabei dokumentarisch durch die Jahre. Der Initialschuss dafür war die Tea-Party-Bewegung, die die Worte und Ideen der Gründungsväter sehr grob interpretiert und verdreht, um ihre verrückten Anschauungen zu rechtfertigen. In der Schule wurde uns als einer der wichtigsten Sätze der Verfassung beigebracht: „Alle Menschen sind gleich.“ Die Leute, die das damals geschrieben haben, waren aber weiße Landbesitzer und männlich. Und wenn du nicht weiß, Landbesitzer und männlich warst, durftest du nicht wählen. Also war „Alle Menschen sind gleich“ damals schon eine Lüge. Oder sagen wir: eine Bestrebung. Zu der Zeit sollte es heißen, dass es keine Monarchie und keine Aristokratie mehr gab. Daraus ist mit der Zeit dann die Forderung nach Gleichberechtigung entstanden, damit Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, unterschiedlichen Geschlechts und sexueller Orientierung nicht diskriminiert werden.

Eine Forderung, die man auch heute noch immer wieder stellen muss.

Nicola: Ja. 1998 wurde hier zum Beispiel Paul Rudnicks Stück „The Most Fabulous Story Ever Told“ aufgeführt. Rudnick schrieb darin das Alte Testament um. Statt Adam und Eva gab es Adam und Steve. Auf der Arche Noah waren nur gleichgeschlechtliche Partner. Und als die Flut überstanden war, trafen sie an Land nur heterosexuelle Leute und dachten: Seltsam, was die miteinander machen. Es ist alles umgekehrt. Ein verrückter religiöser Kult irgendwo in Kansas hat das mitbekommen. Die haben uns böse Briefe geschrieben und behauptet, das Stück zeige Maria als lesbische alleinerziehende Mutter. Das ist überhaupt nicht das, was das Stück sagt, weder in Form noch in Aussage.

Wie gehen Sie mit solchen Reaktionen um?

Chapman: Das Stück ist dafür da, Verständnis füreinander zu fördern. Dennoch rechnet man damit, dass es Diskussionen gibt.

Ist die Aufgabe Ihres Theaters eine politische?

Chapman: Nein. Es ist eine künstlerische. Unsere Aufgabe ist es, die Arbeit der Künstler zu unterstützen. Es gibt viele politische Themen, mit denen wir uns auseinandersetzen, historische Themen, genderbezogene Themen, aber das Herz und die Seele dessen, was wir hier machen, ist auf die Kunst bezogen. Nicola: Ein Kennzeichen Amerikas ist vor allem dieser absolute Individualismus. Das hat gute und schlechte Seiten, tendiert aber dahin, dass wir, wenn wir geboren werden, annehmen, dass Geschichte damit begonnen hat. Nichts, was passiert ist, bevor ich da war, hat Gewicht in meinem Leben, denn ich habe es erfunden. Das ist eine enorme Freiheit, aber gleichzeitig ist es ungeheuer töricht zu denken, dass das, was vor mir war, keinen Einfluss auf mich hat. Wir lernen zwar etwas über Geschichte, doch es bleibt nicht haften. Ich denke, dass das Theater, weil es nur kollektiv funktioniert, ein wunderbarer Ort ist, diesen Individualismus neu zu formulieren. Man muss sich im Klaren darüber sein, dass man nicht alleine ist und dass noch andere Leute auf dem Planeten sind, dass es vor und nach uns Generationen gibt.

Wie kommen Sie zu Themen? Legen Sie sie fest und suchen dann nach Künstlern?

Chapman: Nein, meistens bringen die Künstler ihre Themen und Arbeiten mit. Wir haben eine Community namens Usual Suspects mit 500 Leuten jeden Alters, Geschlechts und jeder Hautfarbe. Einige der Künstler, mit denen wir über die Jahre zusammengearbeitet haben, haben wir auch produziert. Es gibt bestimmte Künstler, an denen wir interessiert sind, es können aber auch bestimmte Themen sein oder die Art und Weise, wie jemand arbeitet. Politische Themen sind aber nicht die einzigen, an denen wir interessiert sind. Wir schauen auf die Form und denken nicht, dass der Autor der einzig wahre Künstler ist. Das ist immer ein Zusammenspiel von Autor, Ensemble und Regisseur.

Ist New York in dieser Hinsicht das Zentrum der amerikanischen Theaterszene?

Chapman: Was den experimentelleren bzw. nichtlinearen, nicht-narrativen Fokus angeht, ist es New York. Hier ist das traditionelle und historische Zentrum des Landes, bis zu den 1960er Jahren war es auch das kulturelle und wirtschaftliche. Danach hat sich die Szene angefangen zu verstreuen. Chicago ist eine wichtige Theaterstadt, aber dort macht man eher Mainstream. Los Angeles hat eine wachsende Theaterszene, die aus der Filmszene hinüberschwappt. Und auch in Minneapolis, Washington D.C. und Philadelphia gibt es größere Theaterszenen. Jedenfalls ist die Theater- landschaft vielseitiger als sie mal war.

Wie verhält es sich mit dem Publikum? Sind am Broadway eher Touristen?

Nicola: Da sind eher die kommerziellen Shows, und die Karten sind sehr teuer. Für ein großes Broadway-Musical bezahlt man 150 Dollar, unsere Karten kosten 65 Dollar, und das ist auch noch viel Geld. Man muss das aber immer im Kontext des jeweiligen Budgets und der Größe des Theaters sehen. Ich glaube, das Soho Rep. hat 75 Plätze, also bezahlen sie den Schauspielern weniger und verlangen für die Karten dementsprechend weniger, ca. 45 Dollar. Wir haben 199 Plätze und zahlen den Schauspielern mehr, also ist der Kartenpreis auch höher. Der Broadway jedoch wird auch oder gerade durch die kleinen Theater belebt. Zwei von unseren diesjährigen Produktionen waren recht erfolgreich und sind dann hoch an den Broadway gezoge­n. Wenn man in so einem Umfeld arbeitet, kann man deutlic­ h den Unterschied spüren: Was die Broadway-Leute im Arbeitsal­ltag antreibt, ist das Geld, und es geht dabei um sehr viel Geld. Das Theater ist eine Investition.

Bekommen Sie finanzielle Unterstützung durch die öffentliche Hand?

Chapman: Unterstützung bekommen wir vor allem von Einzelnen, von Freunden und Leuten, die unser Theater mögen. Wir haben einen Verwaltungsrat, der persönlich haftet und finanziell für uns verantwortlich ist. Die Mitglieder müssen uns jährlich einen bestimmten Betrag zahlen. Nicola: Mindestens 15 000 Dollar im Jahr.

Privates Sponsoring sozusagen?

Chapman: Ja, von Leuten, die es sich leisten können. Außerdem veranstalte­n wir eine große Spendensammelaktion am Ende jeder Saison. Weniger als fünf Prozent kommen von der öffentlichen Hand.

Nicola: Wir haben ein Budget zwischen viereinhalb und fünf Millione­n Dollar pro Saison. Vom Staat bekommen wir um die 250 000 Dollar.

Sind viereinhalb bis fünf Millionen Dollar viel im Vergleich zu anderen Theatern in den USA?

Chapman: Wir sind kein großes Theater, eher ein mittelgroßes; die großen Theater haben im Schnitt ein Budget von 18 bis 20 Millionen.

Bei Ihnen treiben also die Mitglieder des Verwaltungsrates das Geld ein?

Chapman: Ja, aber das ist nur ein Weg. Wir haben drei Leute, die permanent Spenden sammeln. Einer kümmert sich um Einzelspender. Wenn einzelne Leute bis zu 1500 Dollar oder mehr spenden, muss man diese Beziehungen pflegen.

Nicola: Ja, sie wollen zum Beispiel mit dem Intendanten zu Abend essen. Chapman: Und dann müssen wir eben auch jedes Jahr zu den staatlichen Stellen gehen und Gelder beantragen. Außerde­m wenden wir uns an Stiftungen.

Nicola: Es ist ein institutionalisiertes Betteln.

Können Sie über das Geld frei verfügen?

Chapman: Über das von Einzelpersonen, ja, aber die Stiftungen schränken es manchmal ein, sodass wir die Gelder nur für bestimmte Projekte ausgeben können. Die Fördergelder der Regierung sind meistens projektorientiert, also muss man im Vorfeld wissen, worum es in den Projekten geht und wofür man das Geld braucht, dann finanzieren sie das Projekt.

Gibt es unter den Theatern einen großen Wettbewerb?

Chapman: Ja, es gibt um die 500 nichtkommerzielle, gemeinnützige Theater in New York City. Und wir alle konkurrieren um das gleiche Publikum, die gleichen Zuwendungen.

Sie haben gesagt, Sie gehen auch mit Leuten essen?

Chapman: Wir haben ein anderes System; wenn man Theater mache­n möchte, muss man das so machen. All den jungen Künstlern wird beigebracht, sich selbst zu managen. Es gibt keine andere Möglichkeit. Nicola: Ja, wenn man ein Künstler in diesem Land ist, muss man ein Unternehmer sein. Man muss sein Leben als Geschäft sehen. Man muss jede Gelegenheit nutzen, eng mit Kompanien zusam- menzuarbeiten oder in die großen Städte zu gehen, auch wenn man kein regelmäßiges Gehalt bekommt. Die Schauspieler wol- len heute alle im Fernsehen oder im Film arbeiten, um zu überle- ben. Geld kann man mit Fernsehen verdienen oder mit einem Engagement in einer erfolgreichen Broadway-Show.

Chapman: Deshalb ist Kunst für uns am New York Theatre Workshop das Wichtigste. Aber eben auch bestimmte Themen, weil das hier der letzte Ort ist, wo wir darüber nachdenken und frei diskutieren können. Es gibt keine anderen Plattformen. Das Fernsehen hat rein kommerzielle Interessen, und in den Kirchen darf man nicht frei reden, denn viele haben politische Interessen. Das Theater ist der letzte Ort, um sich mit Ideen zu beschäftigen. Und das versuchen wir zu tun. //

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