Den Tod sterben
Erschienen in: Recherchen 123: Brecht lesen (06/2016)
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In Jean Baudrillards Der symbolische Tausch und der Tod findet sich nicht nur ein Hinweis auf, sondern ein wörtliches Zitat aus Brechts Gedicht „Vom ertrunkenen Mädchen“.1 Es steht im Zusammenhang mit seiner Kritik an einer Idee des Todes als biologischem und punktuellem Ereignis und Horizont, an die ich erinnern will, weil sie Brechts Diskurs zu erhellen vermag. Baudrillard argumentiert: „Die Irreversibiliät des biologischen Todes, sein objektiver und punktueller Charakter, ist ein Produkt der modernen Wissenschaft. […] Der Tod ist kein Fristablauf, der Tod ist eine Nuance des Lebens – oder das Leben ist eine Nuance des Todes.“2 Metaphysik und Biologie seien in Hinblick auf den Tod nur scheinbar entgegengesetzt, in Wahrheit in Kontinuität, sofern beide eine Illusion des Subjekts nähren, das gleichsam in ein Leben eingeschlossen ist, dem der Tod fehlt, das dafür aber durch den Tod in absurder Weise endet. Ein anderes Denken wäre erforderlich, und dieses würde „sagen, daß ganze Teile von ‚uns selbst‘ (von unserem Körper, unseren Gegenständen und unserer Sprache) von Anbeginn des Lebens dem Tod verfallen sind. […] Einige gelangen dadurch dahin, sich selbst nach und nach zu vergessen – so wie Gott in Brechts Ballade das ertrunkene junge Mädchen vergißt, das...