Die Tragödie Heinrich von Kleists
von Georg Lukács
Erschienen in: Georg Lukács – Texte zum Theater (06/2021)
An Kleist knüpft in Deutschland die moderne Literatur im engeren Sinne, im Sinne ihrer niedergehenden Spätentwicklung an. Kleist lebt und schafft unverstanden von seinen Zeitgenossen. Sein literarischer Ruhm beginnt verhältnismäßig spät und erreicht den Gipfelpunkt in der imperialistischen Periode. In dieser Zeit ist er, wenigstens in den literarisch gebildeten Kreisen, der populärste und der als besonders aktuell empfundene Klassiker. Vor allem das Kleistsche Drama wird im steigenden Maß zum Vorbild und verdrängt immer stärker das Schillersche. Schon Gundolf stellt Kleist als den eigentlichen deutschen Dramatiker dar; als einen Dichter, der originär, aus seinen ursprünglichen Instinkten Dramatiker geworden sei und nicht wie Lessing, Goethe oder Schiller auf irgendwelchen komplizierten Umwegen. Diese Bewertung führt dann der Faschismus weiter aus. Der Dramatiker Kleist wird bei den Faschisten das große gestalterische Gegenbild zum dramatischen Humanismus Goethes und Schillers, der germanische Dionysier unter den Dramatikern, mit dessen Hilfe die humanistische Vernunft der Dramatik Goethes und Schillers überwunden werden kann.
Diese Richtung der »Aktualisierung« hat bestimmte reale Wurzeln in Kleists Persönlichkeit. Hier braucht die reaktionäre Literaturgeschichtsschreibung weniger Verfälschungen, weniger Verdrängungen, weniger Weglassungen als in den Konstruktionen, die zum Beispiel Hölderlin oder Büchner zu Ahnen reaktionärer Kunstbestrebungen machen wollen.
Franz Mehring hat über Kleists Persönlichkeit im wesentlichen...