Magazin
Aus dem Leben der Boheme Ost
Jutta Voigt: Stierblutjahre. Die Boheme des Ostens. Aufbau Verlag, Berlin 2016, 272 S., 19,95 EUR.
von Holger Teschke
Erschienen in: Theater der Zeit: Wie es euch gefällt – Christian Friedel vertont Shakespeare (12/2016)
„Entschwundene Orte, vergessene Namen, verblassende Leidenschaften – ich habe versucht, sie an unseren Tisch zu holen, bevor es kalt wird in Deutschland“, schreibt Jutta Voigt im Vorwort ihres Buches, und man fragt sich, wo dieser Tisch heute stehen mag, nachdem Bars wie das Espresso, die Möwe und selbst der Lampion seit Langem verschwunden sind. Vielleicht in der Kantine der Volksbühne Berlin, dem letzten Keller der Boheme Ost, der noch nicht totglanzsaniert ist.
Theater spielen eine wesentliche Rolle in dieser unterhaltsamen Sub-Kulturgeschichte eines verschwundenen Landes. Vor allem das Berliner Ensemble, in dessen Nähe die legendären Bars und Boutiquen zwischen Friedrichstraße und Chausseestraße lagen, vom Trichter bis zum Café Esterhazy. Jutta Voigt beschwört die Erinnerungen an deren berühmte Gäste und Wirte, an Schauspieler und Regisseure, Tänzerinnen und Dichter, Maler und Fotografinnen, von denen heute viele unter dem begehrten Rasen des Dorotheenstädtischen Friedhofs liegen. Ihre Porträts und Momentaufnahmen verdichten über 40 Jahre Kunst- und Theatergeschichte zu einer langen, rotweinseligen Premierenfeier, auf die vor allem in den siebziger und achtziger Jahren zunehmend verkatertes Erwachen folgte. Auch das verschweigt die Autorin nicht, die seit jungen Jahren als Journalistin des Sonntag in der Szene zu Hause war: Es gab bald mehr Sex und Suff als Erotik und Esprit, mehr Klatsch und Kolportage als Kunst und kritische Reflexion, mehr Ausreise als Nachwuchs. Auch in den Künstlerkreisen der DDR wurde der Zerfall der Utopie von einer menschenwürdigeren Welt zunehmend grau in grau gemalt, die Farben der legendären Theater- und Filmplakate an den Wänden verblassten. Als letzter Ausweg blieb der Abschied in die bunte Warenwelt des benachbarten Deutschland, auf die glitzernden Laufstege der Galerien und Bühnen zwischen Hamburg, Berlin-West und München.
Das Leben der Boheme nach der verschacherten Revolution von 1989 beschreibt Jutta Voigt ohne Larmoyanz und Nostalgie in den „Zeitansagen“ ihrer lesenswerten Erinnerungen. Da ist man dann froh zu hören, dass Künstler wie Katja Lange-Müller, Olaf Schwarzenbach oder Frank Castorf ihren scharfsinnigen Widerspruchsgeist aus Ostzeiten bis heute bewahrt haben. Ohne den würde es noch kälter in Deutschland.