Theater der Zeit

Funktionen von Geruchsdesign und olfaktorischer Involvierung in immersiven Aufführungskontexten

Am Beispiel von SIGNAs „Das halbe Leid“

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

Assoziationen: Wissenschaft SIGNA

Susi (Evi Meinardus, rechts) und Wolfgang (Lorenz Vetter, links) in der Begrüßungssequenz von SIGNAs Das halbe Leid, Foto: Erich Goldmann
Susi (Evi Meinardus, rechts) und Wolfgang (Lorenz Vetter, links) in der Begrüßungssequenz von SIGNAs Das halbe LeidFoto: Erich Goldmann

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1. Susi (Evi Meinardus) begleitet Zuschauerin Michaela (alias Susi-I) und mich (alias Susi-II) zu unseren Betten im Schlafsaal der Frauen im ersten Stock. Sie erklärt die Aufteilung der Gruppen im Raum – wir seien auf der »Seite der Deutschen«. Gegenüber seien »die aus Osteuropa«, erklärt sie etwas lauter und wirft dabei einen abschätzigen Blick zu Alina (Amanda Babaei Vieira), die geschäftig nach etwas auf der Suche zu sein scheint. Susi stehen zwei Doppelbetten für ihre Kursist*innen zur Verfügung. Michaela und ich wählen jeweils das obere Bett. Passend zu Susis Kleidung ist auch die Bettwäsche rosafarben.

Als Nächstes müssen wir uns umkleiden. Die Idee des Vereins ist, dass wir uns für die Dauer des Kurses auch visuell unseren Mentor*innen annähern. Dafür holt Susi einen Sack voller gebrauchter Textilien hervor und kramt nach für uns passenden Stücken. Natürlich hat sie nur Kleidungsstücke in Pink- und Rosatönen anzubieten. Sie reicht mir eine rosafarbene, zu große Stoffhose, die am Bund mit einem Haargummi festgebunden werden muss. Dazu ein weißes Top, einen rosafarbenen Pullover und einen Schal für die Nacht im gleichen Farbton. Sogar die Socken bekomme ich von ihr. Nur meine Unterwäsche darf ich anbehalten. Ich kann es nicht lassen, bevor ich mich umkleide, erst einmal an den Sachen zu riechen. Erleichtert nehme ich den frischen Duft von Waschpulver wahr und beginne, mich als Susi-II zu verkleiden. Für persönliche Gegenstände und das Kursheft erhalten wir einen Brustbeutel, überdies eine Plastikschale fürs Essen. Ich fühle mich in meine Kindheit zurückversetzt. Es hat etwas von Fasching oder einem Kindergeburtstag, wenn nur das triste Umfeld nicht wäre …181

Im Folgenden platziert uns Susi in der Couchecke des Schlafsaals, erzählt etwas von sich und dem Alltag im Verein und setzt, so als sei es ganz selbstverständlich, dazu an, mich zu schminken. Wenngleich ich nicht gerade begeistert davon bin, lasse ich es geschehen. Rosa Lidschatten, Mascara, Rouge. Der süßlich-cremige Duft der Schminke. Für mich ein klassischer Moment von Theater. Ich erinnere mich, wie ich es immer genossen habe, wenn ich in meiner Jugend für verschiedene Statistinnenrollen am Theater vorher in die Maske durfte. Nur jetzt muss ich wahrlich ziemlich albern aussehen. So ganz in Rosa. Aber egal. Für Eitelkeit ist hier kein Platz. Im Moment des Schminkens kommt mir Susi recht nah und ich realisiere zum ersten Mal ganz deutlich den Geruch, der von ihr ausgeht. Es ist eine ganz bestimmte Mischung. Die Hände riechen nach kaltem Rauch. Ihr Atem ganz leicht nach Bier. Schließlich trägt sie die ganze Zeit eine Dose Ratskrone mit sich herum und nimmt immer wieder mal einen Schluck. Aber da ist auch eine Parfumnote wahrzunehmen. Süßlich und schwer zugleich. Nachdem sie Michaela und mich fertig geschminkt hat, gönnt sie ihrer Frisur auch noch eine Ladung Haarspray mit Himbeerduft zur Auffrischung.182

2. Es ist 22 Uhr. Ich entscheide mich für den Kurs »Reflexives Fernsehen« bei Annette (Luisa Taraz) im Fernsehraum. Es ist recht warm und stickig. Ein paar Leidende sitzen auf der Couch. Ich bin die einzige Kursistin, bis nach ein paar Minuten noch Alina-III dazu stößt und mir unvermittelt versucht, im Auftrag von Alina einen Ring »als Andenken« zu verkaufen. Der Kurs beginnt. Annette erläutert die Aufgabe: Der Leidende dreht sich die ganze Zeit im Kreis und soll, immer wenn sein Blick kurz den Fernseher erheischt, kurz beschreiben, was er sieht. Nicht so spannend, denke ich. Aber gut. Wolfgang (Lorenz Vetter), der Leidende, der mir zu Beginn netterweise seinen Platz auf der Couch überlassen hatte, meldet sich als Freiwilliger. Bereits vorhin fiel mir sein wirklich übler Geruch auf. Jetzt, da er sich im Raum dreht, fällt er noch stärker ins Gewicht. Richtig beißend. Eine schwer zu beschreibende Mischung aus Schweiß, fettigem Haar, angepinkelten Klamotten und Mundgeruch. Wirklich extrem unangenehm. Da Wolfgang aufgrund von Schwindel zunehmend wankt, sollen wir uns alle um ihn herum aufstellen, um ihn mit unseren Körpern vor einem Fall zu schützen. Er dreht sich förmlich in einen Rausch. Annette will, dass wir ihn mit den Händen noch zusätzlich weiterdrehen und ihm zurufen: »Lass es zu!« Ich bin schon völlig benebelt von dem Geruch und merke, dass es mir unangenehm ist, ihn anzufassen, und dass ich körperlich ausweiche, damit ich nicht mit ihm zu nah aneinandergerate. Sein Kopf ist schon hochrot. Hoffentlich ist das bald vorbei.183

Zunächst fällt auf, dass beide Miniaturen größtenteils auf olfaktorische Eindrücke rekurrieren, die körpergebunden waren, die mit den konkreten Verkörperungen der Figuren Susi durch Evi Meinardus und Wolfgang durch Lorenz Vetter zu tun haben. Die Tatsache, dass das Aufführungsdispositiv von Das halbe Leid es erzwingt, den Darsteller*innen physisch derart nahe zu kommen, macht es überhaupt erst möglich, ihre Körper in dieser Intensität riechen zu können. Die Option einer solchen physischen Nähe ist also die Voraussetzung dafür, dass es zu Erfahrungen, wie ich sie mit Susi oder Wolfgang gemacht habe, überhaupt kommen konnte.

Von produktionsästhetischer Verbindlichkeit für die Ausstattung aller SIGNA-Arbeiten ist das in Kapitel 2.3.4 bereits erwähnte, von Signa Köstler über die Jahre entwickelte »Bleakness«-Regelwerk. Dieses umfasst nicht nur materielle Richtlinien für die Raumausstattung (z. B., dass generell gilt, hauptsächlich alte, gebrauchte Gegenstände zu verwenden, die vom Flohmarkt, aus dem Müll stammen oder bereits defekt sind), sondern auch sprachliche Ausdrucksformen (z. B. milieuspezifische Sprache und Ausdrucksweise, Kraftausdrücke, Vermeidung bildungssprachlicher Vokabeln) sowie die Kategorie »Gerüche, Lebens- und Genussmittel«184. Hierzu gehören im Fall von Das halbe Leid u. a. die sehr blasse Kohlsuppe, die es bei meinem ersten Besuch zum Abendessen gab, die gräulich-fade Linsensuppe bei meinem zweiten Besuch oder auch der farblos schmierige Haferbrei, den ich zum Frühstück beide Male aufgrund seines visuellen Erscheinungsbildes abgelehnt habe. Gerüche wandern zum einen mit den gebrauchten Materialien ein – je älter und abgegriffener die verwendeten Stoffe, Requisiten und Klamotten, desto eher geht von ihnen auch die gewollte, trostlose Muffig- und Schäbigkeit aus; zum anderen werden Gerüche auch gezielt in Räumen produziert – so z. B. der Duft frisch gebratener Leber im Zwinger von Wir Hunde (vgl. Kap. 4.5.2) oder der geradezu betäubende Duft von Räucherstäbchen, Moschus und Duftkerzen in einem der Schreine von Das Heuvolk (vgl. Kap. 4.4). Bei Das halbe Leid gibt es nur wenige spezifische Raumdüfte, mit Ausnahme vielleicht vom Bastelraum mit seinen Gerüchen von Ton, Klebstoff, Metall und Farben. Dafür wurde dezidiert und stärker als in allen anderen, mir bekannten SIGNA-Arbeiten mit Körpergerüchen gearbeitet.

Der gestaltete Mikrokosmos von Das halbe Leid ist sowohl echten Obdachlosenunterkünften als auch künstlerisch verdichteter Dokumentarfotografie dieses sozialen Milieus nachempfunden. Die explizite Schäbig- und Unwirtlichkeit der beiden Schlafräume und der Essensausgabe passt zu dem schlechten Zustand der sanitären Anlagen der ehemaligen Werkhalle der Firma Heidenreich. Das Raumensemble zitiert das Bild einer prekären Notunterkunft für obdach- und schutzsuchende Menschen und bildet den temporären Sitz des fiktiven Vereins »Das halbe Leid e.V.«. Innenarchitektur und Interieur wirken dabei derart ›authentisch‹, dass einige Zuschauer*innen es für möglich hielten, dass es sich hierbei wirklich um eine Notunterkunft handelte.185 In der gemeinsamen Probenzeit wurde sich ausführlich mit der Situation von Obdachlosen in Deutschland auseinandergesetzt (z. B. durch das gemeinsame Sichten von Dokumentationen zu dem Thema). Einige der Darsteller*innen, die Leidende verkörpern sollten, haben für ihre Figurenrecherche obdachlose Menschen in Hamburg aufgesucht, Gespräche über ihren Alltag geführt oder sogar ein paar Nächte mit ihnen auf der Straße verbracht.186

Das halbe Leid ist die theatrale Realisierung eines Mikrokosmos, in dem das prekäre Leben von Menschen, die »am Rande der Gesellschaft«187 leben, von Performer*innen und Darsteller*innen im Modus einer Wirklichkeitssimulation (re-)präsentiert wird. Diese geht mit der Darstellung eines prekären, sozialen Milieus einher, welches von Armut, Missbrauch, Prostitution, Drogenkriminalität, Alkoholismus und körperlicher wie psychischer Gewalt geprägt ist. Der Einsatz von olfaktorischen Stimuli wie dem allgegenwärtigen Geruch von Bier, Zigaretten und Schweiß im Rahmen von Bleakness dient dabei als »Authentifizitäts-Markierer« (Köstler/el Gammal/Döring, 2015, S. 91) für den Wirklichkeitseffekt des repräsentierten Mikrokosmos. Das Gleiche gilt für den Umgang der Darsteller*innen mit dem Körpergeruch ihrer Figuren. Dass Wolfgang, wie in Miniatur 2 beschrieben, so beißend verlottert und ungewaschen riecht, dient der Plausibilisierung seiner Figur und dem repräsentierten Milieu. Insofern erfüllt das Olfaktorische hier eine illustrative Funktion.

Da Signa Köstler die Figuren lediglich in einer groben Form vorab skriptet, die weitere Entwicklung aber den Darsteller*innen überlässt, ergeben sich ganz verschiedene Weisen und Techniken der Figurenverkörperungen. So wird z. B. Pamela, meine Mentorin bei der zweiten Teilnahme am Kursangebot von »Das halbe Leid e.V.« von Sonja Pikart dezidiert als Kunstfigur entwickelt und verkörpert. Auch sie ist wie Susi ganz in Pink- und Rosétönen gekleidet und trägt immer eine Puppe mit sich, die sie auf ihre Körpermitte presst, weil sie glaubt, ein Loch im Körper zu haben, welches damit abgedeckt werden könne. Sie ist seit ihrer Kindheit traumatisiert und leidet unter diversen Angststörungen. Pikart verkörpert Pamela mit einer Reihe von Ticks: Aus Nervosität knibbelt sie stets am Fuß der Puppe herum, der schon ganz porös ist und abzubrechen droht. Ihre Anspannung zeigt sich in den permanent hochgezogenen Schultern und ihrer Körperhaltung. Bewegt man sich mit Pamela durch den Raum, wirkt sie stets hektisch und lanciert wirre Blicke in alle Richtungen, weil sie der Überzeugung ist, dass der Verein alle überwache. Ihre Figur ist eindeutig überzeichnet, aber keine klischierte Darstellung einer obdachlosen, verlotterten und übel riechenden jungen Frau.

Die Darsteller*innen von Wolfgang und Susi stehen neben zahlreichen anderen Akteur*innen, die im Ensemble von Das halbe Leid Leidende verkörpern, für eine andere Weise der schauspielerischen Handhabe ihrer Figurenentwicklung und -verkörperung. Ich würde behaupten, dass sie sich weniger an der Imagination einer Kunstfigur als vielmehr an der Nachahmung einer ›echten‹ Person aus der repräsentierten Lebenswelt orientieren. Und dazu gehört, dass sie sich auch mittels Modellierung ihres eigenen Körpergeruchs in ihre Figuren einleben, dass sie ihren phänomenologischen Darsteller*innen-Leib so zu verändern bereit sind, dass er im Idealfall mit dem semiotischen Körper ihrer Figur zusammenfällt. Im Fall von Wolfgang haben wir es mit einem visuellen und olfaktorischen Stereotyp188 eines verwahrlosten, übel riechenden Menschen zu tun, der aus der »Mitte der Gesellschaft«189 und all ihren Hygieneregeln und Geruchsnormen herausgefallen zu sein scheint. Man könnte nun argumentieren, dass es hier gerade die Wahl eines Stereotyps ist, die der Überzeichnung dient.

Das Problem eines solchen Einsatzes von Geruchsdesign in Form von modifizierten, zur Figur ›passenden‹ Körpergerüchen ist dabei allerdings auch die Reproduktion von bestimmten (klassenspezifischen) Stereotypen: »[…] aromas are often used effectively to telegraph a stereotype of class or nationality or ethnicity […]. [T]he aroma contributes […] to a condensed, culturally embedded association of those cultural sites instantly recognizable to that particular audience« (Banes, 2007, S. 34). Dass es nicht nur bei einer visuell wahrnehmbaren Verkörperung bleibt, sondern Figuren wie Susi und Wolfgang auch buchstäblich olfaktorisch in Erscheinung treten, zeitigt auf der Ebene der Publikumsinvolvierung sowohl affektive wie auch semiotische Effekte. Denn Geruch ist, wie die Kultur- und Sozialanthropologin Bettina Beer ausführt, nicht zuletzt auch eine sinnliche »Qualität, die für die Bewertung von Unterschieden eine große Rolle spielt« (Beer, 2000a, S. 208). Im multisensorischen Kontext des fiktionalen Vereins »Das halbe Leid e.V.« kann der übel riechende Geruch von Schweiß, Zigaretten, Bier und ungewaschener, gegebenenfalls sogar uringenässter Kleidung, der von Leidenden wie Wolfgang oder auch Keller-Reini (Arthur Köstler) ausgeht, als stereotypisierter, olfaktorischer Code für die Repräsentation einer spezifischen sozialen Klasse gelesen werden.190 Er evoziert aufgrund seiner Intensität auf einer affektiv-sinnlichen Ebene zugleich eine unmittelbare körperliche Reaktion wie z. B. eine sofortige physische Distanznahme oder Empfindungen von Ekel. Der gezielt modifizierte Körpergeruch von Leidenden wie Wolfgang zur olfaktorischen Illustrierung eines bestimmten (Geruchs-)Bildes von Obdachlosigkeit wird hier – mit Beer – also zugleich zum Differenzkriterium, das einen Unterschied zwischen Leidenden und Mitleidenden sowie zwischen Leidenden und Kursist*innen her- und ausstellt. Auch die eher positiv besetzten Düfte, die von Susi ausgehen, wie ihr Parfum, das Himbeer-Haarspray oder der Lidschatten sind bewusst so gewählt, dass sie dezidiert als ›billige‹ Düfte wahrgenommen und dekodiert werden können.191

Die Trennung des Publikums nach Geschlecht – binär nach männlich oder weiblich unterschieden192 –, welche in Das halbe Leid gleich zu Beginn durch die Wahl der gleichgeschlechtlichen Mentor*innen im jeweiligen Schlafsaal der Frauen oder Männer abgehalten wird, führt zudem dazu, dass ich als Zuschauerin zunächst primär mit den weiblichen Leidenden in Kontakt komme. Und tatsächlich muss ich später feststellen, dass ein deutliches Geruchsgefälle zwischen dem Schlafsaal der Männer und dem der Frauen besteht. Dadurch wird neben dem oben genannten Stereotyp eines latent ungewaschen riechenden Mitglieds »vom Rand der Gesellschaft« überdies auch noch eine im westlichen Kontext von Gerüchen geprägte Gendervorstellung zementiert, nach der Frauen als »perfumed sex« tendenziell besser riechen bzw. zu riechen haben als Männer (vgl. Beer, 2000b, S. 220; Claasen/Howes/Synnott, 1994, S. 162).

Es zeigt sich hier, dass das Geruchsdesign von Das halbe Leid auf einer illustrierenden und damit die Fiktion ›authentifizierenden‹ Ebene als Bestandteil des immersiven Aufführungsdispositivs gezielt eingesetzt wird, um eine Differenz zwischen repräsentierter Lebenswelt der Leidenden und der Welt der Zuschauer*innen olfaktorisch zu markieren. Die olfaktorische Ebene der Publikumsinvolvierung fungiert dabei nicht nur als atmosphärische oder affektive Stimulierung, sondern erfüllt im repräsentierten Mikrokosmos auch eine semiotische Funktion, die vom Publikum im oben ausgeführten Sinne dekodiert werden kann (aber nicht muss).

Eine weitere Funktion des Geruchsdesigns bei SIGNA hängt mit der genuinen Eigenschaft von Geruch bzw. dem Geruchssinn zusammen, Auslöser von Erinnerungen und damit verbundenen Emotionen zu sein. Die Miniaturen legen Zeugnis davon ab, welche Assoziationen und Erinnerungen die jeweiligen Gerüche bei mir ausgelöst haben. Sie sind abhängig von meiner Sozialisation, meinen Erlebnissen und affektiven Dispositionen. In situ können diese von der olfaktorischen Involvierung ausgelösten Erinnerungen und Emotionen dazu führen, dass sich meine Weise des Zu-Gast-Seins in der repräsentierten Lebenswelt verändert und meine Handlungen und Haltungen davon beeinflusst werden. Der Akt des Schminkens durch Susi hat im Verbund mit den Gerüchen von Lidschatten, Rouge und Haarspray bei mir als Frau, die im Alltag meist nur dezent oder ungeschminkt auftritt, eine Erinnerung an Theater und Maske geweckt. Eine konkrete Erinnerung, die für eine Produktion wie Das halbe Leid äußerst kontraproduktiv ist, da es in der SIGNA-Logik immer prioritär darum geht, die Sphäre des Theaters mit allen Mitteln zugunsten der fiktionalisierten Lebenswelt auszublenden.193 Gleichzeitig hat die positiv besetzte Erinnerung bei mir dazu geführt, dass ich mich in situ einmal mehr ganz bewusst dazu entschieden habe, mich auf die Aufführung und den Modus der geteilten Wirklichkeitssimulation mit ihren Fiktionalisierungsstrategien einzulassen.

Im Gegensatz zu meiner eindeutig negativ besetzten, olfaktorischen Wahrnehmung von Wolfgang war mir der Körpergeruch von Susi zu keinem Zeitpunkt unangenehm, im Gegenteil, er war mir sogar auf eine merkwürdige Weise vertraut. In Kombination mit Susis oder Evis Humor (denn das war für mich nicht immer zu unterscheiden), der mich mehrmals in minutenlange Lachanfälle manövriert hat, sowie zwei, drei Reaktionen, durch die Evi als die Aufführung kommentierende Privatperson durchschimmerte, hat sich eine Sympathie mit meiner Mentorin hergestellt, die mehr mit einer affektiven, zwischenmenschlichen Ebene zu tun hatte als mit der narrativen Ebene ihrer Figurenbiografie und ihres Schicksals, in das ich mich qua Inszenierungsrahmen für zwölf Stunden einzufühlen hatte. Dass ich mich dann in einer nächtlichen Therapiesitzung, in der Susi von dem die Sitzung leitenden Mitleidenden Serkan (Raphael Souza Sá) schlecht behandelt wurde, aktiv für sie eingesetzt und Serkan damit massiv gegen mich aufgebracht habe194, lag schlicht daran, dass sie mir über die bereits verbrachten Stunden vertraut geworden war, nicht jedoch daran, dass ich mich in ihre narrativ vermittelte Leidensgeschichte eingefühlt hätte. Der Körpergeruch bzw. die Tatsache, ob man jemanden »gut riechen kann«, ist in Das halbe Leid ein entscheidendes Kriterium für das Ausbilden von Sym- oder Antipathie gegenüber den Mentor*innen und schafft damit eine wichtige affektive Basis für jenen »Identitätswechsel«, den der*die Zuschauende im Rahmen des fiktiven Kurses vollziehen soll und der darin besteht, sich in das Mentor*innen-Gegenüber, dem man optisch angeglichen wurde, einzufühlen.

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass die Wahrnehmung der Körpergerüche der Figuren/Darsteller*innen Zuschauer*innen zugleich auf der Ebene der fiktionalisierten Weltversion als auch auf der Ebene des geteilten Aufführungsgeschehens involviert. Das Besondere an der Rezeption von SIGNA-Aufführungen ist das beständige Überlappen und Ineinander-Wirken dieser beiden Ebenen. Bei mir sind es olfaktorisch evozierte Erinnerungen wie die ans Theater (über den Duft des Lidschattens), an die Kita-Küche von früher (über den Duft der Linsensuppe), das Nachtleben (über den Geruch von Zigaretten und Alkohol) oder auch die Altenpflege (über den Geruch von Urin), die meine Aufmerksamkeit kurzfristig vom fiktionalen Mikrokosmos abziehen, dann aber indirekt auf ihn zurückwirken, insofern durch die Erinnerungen eine affektiv grundierte Bindung zu Figuren oder Räumen hergestellt wird, die individuell ist und sich bei anderen Zuschauer*innen entsprechend gänzlich verschieden einstellen kann. Gerüche werden situativ zum Medium autobiografischer Erinnerungen und die Emotionen und Gefühle, die sich über die assoziierten Erinnerungen einstellen, haben wiederum einen Effekt auf das empfundene Weltverhältnis, welches sowohl die Wahrnehmungsebene der sozial-relational geteilten Aufführungssituationen als auch die vom Mikrokosmos repräsentierte Lebenswelt betrifft. Gerüche sind aber eben nicht nur Medium autobiografischer und damit individueller Erinnerungen, sondern auch Teil historisch variierender, kultureller Geruchsordnungen, die dafür sorgen, dass mit bestimmten Düften bestimmte Valorisierungen und damit auch bestimmte körperliche Relationierungen verbunden sind.

Während ich die Geruchswahrnehmungen der als weiblich gelesenen Figuren tendenziell eher als angenehm empfunden habe, spürte ich beim Geruch von Wolfgang, wie mein Körper sofort physischen Abstand einnehmen wollte, um dem Gestank zu entgehen. Ich spürte, wie meine Hände ihn nicht berühren wollten und mein ganzer Körper in Anspannung geriet; wie sich Ekel breitmachte und ich mich von seinem Geruch vereinnahmt fühlte. Und die Empfindungen von Ekel, die sich situativ aufgedrängt haben, blieben gewissermaßen an Wolfgang haften und für den Fortgang meines Besuchs bei Das halbe Leid mit ihm und seinem Körper verbunden, was dazu führte, dass ich mich fortan von ihm fernhielt und physische Distanz wahrte. Und sie übertrug sich bei mir sogar noch auf eine weitere männlich gelesene Leidenden-Figur, welche ich gezielt schnitt, um weitere Ekel-Empfindungen zu vermeiden. So habe ich meine Erfahrung mit Wolfgang auf eine andere Figur übertragen, der ich aufgrund des visuell ähnlichen Erscheinungsbildes auch einen ähnlichen Geruch unterstellte und damit die Möglichkeit einer Begegnung für mich ausschloss. Das Geruchserlebnis mit Wolfgang zeitigte bei mir den körperlichen Effekt einer Ab- und damit zugleich auch einer innerdiegetisch (wie auch ethisch) problematischen Ausgrenzung.

Affekttheoretisch betrachtet, hat sich hier ereignet, was Sara Ahmed am Beispiel des Ekels über das Prinzip der stickiness als einen Akt der kulturellen und sozial-relationalen Erzeugung von Emotionen begreift, bei dem Körper mit einer bestimmten affizierenden und zugleich valorisierten Qualität ›belegt‹ und verknüpft werden:

Rather than using stickiness to describe an object’s surface, we can think of stickiness as an effect of surfacing, as an effect of histories of contact between bodies, objects, and signs. To relate stickiness with historicity is not to say that some things and objects are not «sticky» in the present. Rather, it is to say that stickiness is an effect. That is, stickiness depends on histories of contact that have already impressed upon the surface of the object (Ahmed, 2014, S. 90, Hervorhebung i. O.).

In meinem Körpergedächtnis sind demnach Vorgeschichten mit Erfahrungen von Ekel als spezifische, sozial-relationale Kontaktereignisse (histories of contact) abgelegt, die nicht nur den Ausschlag dafür gaben, dass ich mich ad hoc distanzierte, sondern auch, dass ich das den Ekel auslösende Subjekt negativ bewertete (vgl. dazu auch Beer, 2000b, S. 215). Die Emotion verbindet in dieser Weise bestimmte Körper mit bestimmten Erfahrungswerten oder Vorannahmen, wie z. B., dass Wolfgangs Kleidung riecht, weil sie ungewaschen, durchgeschwitzt und dreckig ist und also bereits mit vielen anderen Dingen in Berührung kam, bevor ich mit ihr olfaktorisch in Beziehung trete (vgl. Ahmed, 2014, S. 88). Der Ekel, der hier geruchsbedingt ausgelöst wurde, reaktiviert eine »Verklebung« meiner Wahrnehmung von Wolfgang mit der unterstellten Assoziation von Dreck bzw. fehlender Hygiene und resultiert im Akt der körperlichen Distanznahme. Die affizierende und vereinnehmende Wirkmacht dieser stickiness lässt mich auch von anderen körperlich Abstand nehmen, von denen ich problematisch-pauschalisierend annehme, dass sie gegebenenfalls ebenso riechen und deshalb ähnliche Reaktionen in mir auslösen würden, die ich als negative Empfindungen vermeiden will. Sie manifestiert sich auch dann, wenn andere meine Geruchswahrnehmung und -bewertung teilen und affirmieren. Dies passierte bei meinem ersten Aufführungsbesuch im Nachgang der Essensausgabe. Susi schlug vor, dass wir unsere Suppe im Fernsehraum zusammen einnehmen. Cliff (Georg Bütow), ihr Freund, war bereits vor Ort, als wir ankamen, ebenso Wolfgang. Susi verwies Letzteren kurzerhand mit harschem Ton des Raumes. Und zwar mit der Begründung, dass er so stinke und dies in Kombination mit dem Abendessen für niemanden auszuhalten sei. Der Körpergeruch von Wolfgang und die potentiell damit verbundene Emotion des Ekels fungierten hier auf innerdiegetischer Ebene zugleich als Marker der Ausgrenzung und spielten der Eintragung einer Binnenhierarchie zwischen den Leidenden zu, an der ich mich mit meiner beobachtenden Teilnahme und ähnlich gelagerten Empfindung nolens volens beteiligte.

Hieran wird die vereinnahmende Dimension des Geruchsdesigns in Das halbe Leid deutlich. Denn die Wahrnehmung von Wolfgang und seinem (mir) unangenehmen Geruch hat dazu geführt, dass ich situativ nicht anders konnte, als mich von ihm zu entfernen, und überdies begann, meine aus der Begegnung resultierte affektive Dissonanz im Sinne der Ahmedschen stickiness auch auf andere Leidende zu übertragen. Die Vereinnahmung zeigt sich weiterführend auch darin, dass ich gleichsam eine typisch westliche Perspektive der kulturellen Geruchsordnung und -bewertung ausagiert habe, die auf das 19. Jahrhundert zurückgeht, und darin besteht, natürliche Körpergerüche als unangenehm ab- und künstlich modifizierte Körpergerüche hingegen als angenehm aufzuwerten (vgl. Claasen/Howes/Synnott, 1994, S. 180). Ich realisierte ex post, dass ich in der Szene gleichsam selbst iterierend zur Aufführung gebracht habe, wie sozial-relationale Begegnungen von Geruchswahrnehmungen geprägt sind und wie sie Empfindungen von Sym- und Antipathie beeinflussen und zu Stigmatisierung und Ausgrenzung führen können. Zugleich habe ich es als höchst problematisch erlebt, dass der Auslöser der Ekelempfindungen nicht ein Objekt, sondern ein Mensch war, eine Beobachtung, die im Nachhinein auch Empfindungen von Scham und damit auch eine kritische Selbstreflexion in Gang zu setzen vermochte.

Pars pro toto habe ich durch die Wolfgang-Sequenz auch mein außertheatrales Verhältnis zu auf der Straße lebenden Menschen gespiegelt bekommen. Wie oft habe ich es in Berlin schon erlebt, dass mir in der Bahn oder auf der Straße hilfsbedürftige Menschen nahgekommen sind, um eine Spende zu erbitten, und es zuweilen der beißende Körpergeruch war, der mich von einer Gabe abgehalten hat. Es sind ebensolche eingespielten Verhaltensweisen, die Aufführungen von SIGNA seinen Zuschauer*innen durch die Teilnahme an sozial-relationalen und zugleich ästhetisch gerahmten Wirklichkeitssimulationen wie der in Das halbe Leid zu spiegeln und im besten Falle auch anzuregen vermögen, diese kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls auch zu transformieren.195

Auch auf der innerdiegetischen Ebene lässt sich hier von einer Dimension der Vereinnahmung sprechen, die durch die olfaktorische Involvierung ausgelöst wurde. Denn mit meinem Ausagieren von Ekel gegenüber Wolfgang, der zu einer Abwertung und körperlichen Distanznahme führte, affirmiere ich im Modus der Komplizenschaft die im Verein geltende Machtasymmetrie.196 Der Mikrokosmos von »Das halbe Leid e.V.« ist schließlich durch eine klare Hierarchie zwischen Leidenden und Mitleidenden, aber auch von einer gewaltvoll durchgesetzten Rangordnung unter den Leidenden strukturell durchzogen. Anstatt, wie es der Kurs vorsieht, mit den besonders Verletzlichen am unteren Ende der Hierarchie zu sympathisieren und mich in sie einzufühlen, baue ich eher noch zusätzliche Distanz auf, bestätige damit die geltenden Machtverhältnisse und wirke affirmierend an der repräsentierten Errichtung einer sozialen (Klassen-)Grenze mit.

Wäre Wolfgang mein Mentor gewesen, so hätte ich mit meinem Verhalten gegen den zweiten »Leidsatz« verstoßen, der besagt: »Ich ekle mich nicht vor dir.« Die fünf Leidsätze, die der Verein seinen Kursist*innen zu Beginn des Empathie-Workshops einmal mündlich und im mitzuführenden Kursheft zusätzlich schriftlich ausgibt, sind als Direktiven aus der Ich-Perspektive formuliert:

1. Ich trage deine Kleidung und deinen Namen. / 2. Ich ekle mich nicht vor dir. / 3. Ich darf dich nicht beurteilen. / 4. Ich versuche nicht, dir dein Leid wegzunehmen. / 5. Ich nehme teil an deinem Leid (zitiert aus dem Kursheft von Das halbe Leid).

Den Leidsätzen Folge zu leisten, gehört zu den obersten »Kurs- und Hausregeln«, welche ebenfalls in besagtem Kursheft fixiert sind. Wichtig ist, sich an dieser Stelle klarzumachen, dass SIGNA wie in all ihren Produktionen mit dem fiktiven Verein »Das halbe Leid e.V.« eine gesellschaftliche Institution porträtiert, die zwar überzeichnet ist, aber durchaus entlang von Vorbildern aus der Realität entworfen ist und für eine bestimmte Konstellation existierender, asymmetrischer Machtausübung steht. Wie Zuschauer*innen qua Teilnahme am fiktiven Empathie-Kurs zuweilen noch weiter vereinnahmt werden, soll im Folgenden am Beispiel der Inszenierungssequenz »Weinen mit Viola« aufgezeigt werden.

181 Zuschauerin MP erinnert sich in unserem Interview zu Das halbe Leid: »Am Anfang, als wir da die Klamotten anziehen mussten und ich wusste, okay, das ist jetzt also mein Bett, oder … na gut, wer hat jetzt vorher wohl schon aus dieser Schale gegessen, also da kam schon so ein Ekelgefühl, aber ich habe versucht, mich darauf nicht zu versteifen« (MP 2018).

182 Aus dem Erinnerungsprotokoll meines Besuchs von Das halbe Leid am 8.12.2017 in Hamburg.

183 Aus meinem Erinnerungsprotokoll des zweiten Besuchs von Das halbe Leid am 7.1.2018 in Hamburg.
An den Geruch von Wolfgang hat sich in einem Interview auch Zuschauer MV explizit erinnert: »Es gab einmal einen Moment, beim ersten Mal, als Wolfgang seine Schuhe auszieht in der Nacht. Das stank fürchterlich nach Schweiß und Fußpilz. […]« (MV 2018)

184 In der Übersicht »Bleakness Orientierungshilfe«, die SIGNA ihren Performer*innen während der Proben aushändigen und mir für meine Forschungen vorlag, ist in der Kategorie »Gerüche, Lebens- und Genussmittel« vermerkt: Nicht bleak ist »alles, was modern riecht (AXE-Deos, frische Parfums, Blumige Chemie-Seifen), Zigaretten mit modernen Aromen (einige Fruchttabake) […], alles, was zu starke und/oder ›bunte‹ Assoziationen weckt (asiatisches Essen, Curry), Schokolade in unbleaker Form, Farbe und Verpackung«; demgegenüber gelten Gerüche und Düfte mit den Assoziationen: »muffig; schäbig; stickig; Großeltern; klassische Zigarre (ohne moderne Aromen), Lebensmittel mit bleaker Farbe und Form« als bleak.

185 Hierzu ein weiterer Auszug aus dem Interview mit MV: »Dazu muss man sagen, ich habe bei dem ersten Stück einen Freund von mir mitgenommen, habe ihm nicht gesagt, was passiert. Er wusste nichts von dieser Theaterform, er hatte auch nie etwas von SIGNA gehört. Ich habe ihm gesagt, ›wir verbringen die Nacht zusammen, komm’ doch mal mit!‹ Und er hat, glaube ich, fünf Stunden gebraucht, bis ihm klar wurde, er ist in einem Theaterstück« (MV 2018).

186 So beschreibt Simon Salem Müller (alias Schimmel-Peter in Das halbe Leid) während des öffentlichen Publikumsgesprächs zur Inszenierung am 16.1.2018 in Hamburg: »Ich muss mich erst mal bedanken, und zwar bei den Leuten, die ich draußen treffen durfte, die sind jetzt leider nicht hier. Ich ging da so zum Penny-Markt bei mir und habe mich länger mit den Leuten unterhalten, habe da Geschichten gehört, habe mir die Zeit genommen, wollte dann auch Musikkassetten hören mit ihnen zusammen – ja, was dann da halt so Phase ist.« Auch Simon Steinhorst alias Blondi gibt an: »Also ich hatte zufällig sehr viel mit einem Junkie zu tun, bei dem ich im Knast zu Besuch war, und mit dem ich auch viel unterwegs war. Das war Zufall, dass ich das gemacht habe, aber von dem habe ich viele Stories geklaut.« Dass sich die Spieler*innen während der Probenphase offenbar auch ›in character‹ unter obdachlose Menschengruppen gemischt haben, zeigt sich in den Worten eines weiteren Performers: »Die Recherche, also das war schon ein bisschen absurd teilweise. […] Z. B. da auf die Straße oder in diese Ecken zu gehen, die dann irgendwie nicht so schön sind – weil es ist ja wie Slumming, das ist dann fast so das, was die Vereinsgründer [innerdiegetisch, TS] gemacht haben, eben so zu tun, als ob, sich Kleider anziehen und als eigentlich sehr privilegierte Leute auf die Straße gehen. Und wir als Schauspieler haben das auch gemacht und es war irgendwie ein bisschen merkwürdig, […] sich im Kostüm da hinzubewegen.«

187 Zitat aus Das halbe Leid.

188 Der Begriff »Stereotyp« kommt aus dem Griechischen (»stereos«, dt. »hart, starr« und »typos«, dt. »feste Form«) und findet im 18. Jahrhundert zunächst im Bereich des Buchdrucks und der frühen Publizistik Anwendung. Hier meint er noch konkret handwerklich das Drucken feststehender Lettern. 1922 thematisiert Walter Lippmann Stereotype eher im übertragenen Sinne als eine Form der Kategorisierung. Ihm zufolge handelt es sich bei Stereotypen um »feste« Vorstellungsbilder, die sich Menschen von Dingen oder anderen Personen aufgrund der Rezeption von massenmedialen Inhalten machen; Stereotype wären demnach generalisierende Bilder und/oder Meinungen, die weniger auf einem Erfahrungswissen beruhen als primär von medial zirkulierenden Repräsentationen und Diskursen hergestellt, kollektiv reproduziert und damit verfestigt werden, vgl. Thiele, 2015, S. 27.

189 Zitat aus Das halbe Leid.

190 Für die Thematisierung von Geruch als einem Medium für den Ausdruck von Klassenzugehörigkeit sowie typisch westlicher Strategien von »olfactory management« im Hinblick auf die Korrelation von Hygiene und sozialer Klasse(nzugehörigkeit) siehe Claasen/Howes/Synnott, 1994, insbesondere S. 161.

191 Auf Nachfrage erklärte mir Evi Meinardus, dass sie das Parfum extra auf einem Flohmarkt gekauft habe: »Der Name war nicht mehr auf der Flasche erkennbar. Es war etwas in die Richtung ›Vanderbilt‹; schon etwas abgelaufen.«

192 Um bei der Mentor*innen-Wahl, die einem durchaus problematischen Prinzip eines (ethnifizierenden) Type-Castings nachempfunden ist, allerdings auch Personen im Publikum aufzufangen, die sich als non-binär, transgender oder intersexuell identifizieren, gibt es im Frauenschlafsaal die Transgender-Figur Honey (Jan Liefhold).

193 An dieser Stelle kam dem Geruchsdesign mit Sally Banes eher die Funktion einer Verfremdung oder Distanzierung zu, vgl. Banes, 2007, S. 32. Gleiches gilt auch für die Wahrnehmung der wohlduftenden Bettwäsche, auf die ich in Miniatur 1 zu sprechen komme: Der als positiv valorisierte Duft scheint hier nicht zum Bild, das man sich von dieser repräsentierten Lebenswelt macht, zu passen.

194 Zur ausführlicheren Beschreibung und Analyse der Aktivität »Rückenwind« in Das halbe Leid siehe Kolesch/Schütz, 2018.

195 In den Rezensionen zu Das halbe Leid war dieser Aspekt der am meisten besprochenste: »Dieses Theaterstück macht etwas mit jedem, der dabei ist. Wer demnächst vor einem Lebensmittelmarkt einen Obdachlosen lagern sieht, wird vielleicht mit anderem Blick auf ihn schauen – weil er in dieser Nacht eine Ahnung davon bekommen hat, was es bedeutet, auf der Straße zu leben« (Oehmsen, 2017); »Ein anderer Effekt, den viele Besucher beschreiben: Wer diese Tortur überstanden hat, hat tatsächlich mehr Mitgefühl mit Obdachlosen.« (Stoppenhagen, 2017); »Man trägt ihre Kleidung, man verbringt die Nacht mit ihnen, man geht mit ihnen im Wortsinn auf Tuchfühlung. Wenn man nach diesem Erlebnis durch die Stadt läuft, hat man jedenfalls einen anderen Blick auf die Junkies am Hauptbahnhof und die Bettler in der U-Bahn« (Schreiber, 2017, S. 8).

196 Zur Präzisierung von Komplizenschaft zur Beschreibung vereinnahmender Zuschauer*innen-Involvierung siehe Kap. 4.4.1.

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