Thema
Rauch und Randale? Theaterabende über 1968
„1968: Geschichte kann man schon machen, aber so wie jetzt ist’s halt scheiße“ von Peer Ripberger am Theater Augsburg
Erschienen in: Theater der Zeit: Kunst gegen Kohle – Ruhrfestspiele Recklinghausen. Intendant Frank Hoffmann (05/2018)
Assoziationen: Staatstheater Augsburg
Ungefähr so muss es damals gerochen haben, nach Randale, Rauch und Revolution. Über die Augsburger brechtbühne ziehen Schwaden. Kein Wunder, zünden sich die fünf Schauspielerinnen und Schauspieler doch eine Zigarette an der nächsten an, bis das Publikum mit Hustenreiz kämpft. Das Ensemble (Sebastian Baumgart, Marlene Hoffmann, Roman Pertl, Patrick Rupar und Katharina Rehn) trägt schwarze Hemden und Hosen und weiße Turnschuhe dazu: Uniformierte, wie es sie zu allen Zeiten gibt, damals, heute und morgen. Sie sitzen um einen Tisch herum, und da es um das Jahr 1968 geht, kann von einem Sit-in gesprochen werden. Der Tisch ist ein Theaterpodest, aus dem unsere Fantasie ohne Probleme eine Bananenkiste macht (Ausstattung Raissa Kankelfitz). Gemeinsam skandieren die fünf auf der Bühne dann vorläufige Vorschläge für eine Kulturrevolution: „Alle vorhandenen Begriffe sind überholt und zu überdenken“, heißt es da etwa unter Punkt sechs, bevor alles in der naiv tönenden Forderung „Alle Macht der Fantasie“ gipfelt. Mehrmals an diesem Abend rufen sie das im Chor. Forderungen von damals, die sich locker ins Heute wenden lassen.
Aus unzähligen Texten, Reden und Zeitungsartikeln der damaligen Zeit kondensiert Regisseur Peer Ripberger seinen Text. Dazu sortiert er den gehobenen Zitatenschatz thematisch und setzt ihn neu zusammen. Dabei berücksichtigt er immer mal wieder auch die Situation in Augsburg, indem er dortige Ereignisse und Geschehnisse anspricht. Das geschieht aber nicht in lokalpatriotischer Absicht, sondern eher als Pars pro Toto. Dazwischen verhandelt er sehr ernsthaft Fragen, die so ziemlich alles zwischen Frauenemanzipation und Müllvermeidung betreffen. Ungelöste Probleme allerorten. Was für die gesellschaftlichen Fragen gilt, gilt für die theaterästhetischen erst recht. Was wir eigentlich machen, wenn wir Theater machen, lautet eine der großen Fragen, die diesen frisch gedachten und spielmutigen Abend antreiben. „Aber uns nimmt doch niemand ernst, wenn wir hier auf der Bühne stehen und solche Dinge sagen“, lautet das Mantra der fünf im ersten Teil.
Aktion ist also angesagt. Alle raus aus dem Theatersessel! Der Mittelteil spielt sich dann unter freiem Himmel ab. Die Schauspielerinnen und Schauspieler geleiten alle, die wollen, hinaus. Mit Megafonen bewaffnet, verkünden sie dort in Anlehnung an Martin Luther King ihre Träume, schreien sie in den Nachthimmel. Dabei animieren sie die Zuschauer, sich ebenfalls zu äußern. Man darf entweder selbst zum Megafon greifen oder den Akteuren die eigenen Gedanken mit auf den Weg geben. Dass die AfD aus dem Bundestag und aus Deutschland verschwinden möge und die Weltmeere nicht mehr leergefischt würden, wünscht man sich etwa am Premierenabend. Aus den umliegenden Häusern schauen die Leute aus den Fenstern, und die kalte Luft schmeckt nach Rebellion und Veränderung. Dabei werden die Zuschauer so höflich und nett angespielt, dass selbst Mitmachtheaterhasser mitspielen.
Nach der Pause geht es wieder hinein in den Saal, der sich inzwischen in eine Wohlfühloase verwandelt hat. Statt nach Zigarettenrauch riecht es jetzt nach Badeschaum wie in einem Wellness-Tempel. Vogelgezwitscher hängt in der Luft, die ganze Bühne ist mit Pflanzen vollgestellt, mittendrin eine Badewanne. Ein Paradiesgarten ohne Menschen. Statt derer bevölkern transhumane Gestalten in aseptisch weißen Klamotten die Bühne, wie wir sie ähnlich auch aus den Stücken von Susanne Kennedy kennen. Die Revolution hat stattgefunden. Draußen auf der Straße wie drinnen im Theater. Mit ungelenken Bewegungen laufen die Schauspielerinnen und Schauspieler wie Roboter über die Bühne, verhaken sich ineinander. Der Text kommt von Band. Wir schreiben das Jahr fünfzig einer neuen Zeitrechnung. Sex mit Pflanzen ist möglich, alles andere auch. Die Grenzen sind aufgehoben, Geschlechter, Rassen, Nationen, Klassen haben sich aufgelöst. Zum fulminanten Schlussbild räkeln sich dann alle nackt in der Badewanne. Ein ikonisches Bild. Und: Theater als utopisch dystopischer Ort. //