Müllers Gespenster
Erschienen in: Recherchen 12: Das Politische Schreiben – Essays zu Theatertexten (10/2012)
»Wie kommen Sie denn zu Gespenstergeschichten, alter Herr?«
– »Ich? – das liegt in der Luft ...«
(Theodor Storm)
Was hat es auf sich mit dem Gespenst, was ist da zu hören, warum liegt das in der Luft, was ist sein politischer, theoretischer, ästhetischer Reiz? Daß Jacques Derrida mit seinem Buch SPECTRES DE MARX. L'ETAT DE LA DETTE, LE TRAVAIL DU DEUIL ET LA NOUVELLE INTERNATIONALE (Paris 1993) die Serie seiner Begriffe/Metaphern, in denen er Aufschub und Verzug von Bedeutung im Spiel der Zeichen denkt, um das Gespenst erweiterte; daß Kunst mit Medien und das experimentelle Theater die Frage nach dem Realen aufwerfen und geisterhafte Szenerien zwischen Sein und Nichtsein aufsuchen; daß es im Werk Heiner Müllers von Phantomen, Geistern, Engeln, Untoten, Wiedergängern und gespenstischen Gestalten nur so wimmelt – dies wirft die Frage auf, ob das Gespenst nicht längst nobilitiert sein müßte als Signum für eine Seinsweise der Dinge, die zunehmend die Grenze zwischen Sein und Nichtsein schwinden, den Schwellenbereich dazwischen wachsen läßt. Was denn ist ein Gespenst? Materialisation von Spirituellem, einerseits: eine Seele, eine abgelebte Gestalt, rätselhafte Kräfte, die nur im Denken existieren sollten, nehmen einen Körper an. Entwirklichung, andererseits: denn die...