Theater der Zeit

Dekoloniale Strategien im Theater: In unserem Namen am Berliner Maxim Gorki Theater

von Julius Heinicke

Erschienen in: Recherchen 148: Sorge um das Offene – Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater (05/2019)

Assoziationen: Maxim Gorki Theater

Der asymmetrische Blick setzt eine Symmetrie voraus. In der deutschen Klassik war ein Ideal dieser Grundordnung zweifelsohne die griechische Antike. Deren Kunst und Architektur gaben nicht nur für Hegel Normen und Maße vor. Das klassische französische Theater brachte mit der „doctrine classique“ eine symmetrische Ordnung für Dramen und ihre Aufführungen hervor, an welcher sich das bürgerliche Theater – Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung – lange orientierte. Einerseits zeigt Reschke, dass innerhalb der europäischen Kulturgeschichte seit der Aufklärung eine Vielzahl von Schriften verfasst wurde, welche das symmetrische System kritisch betrachten und verkehren. Andererseits orientieren sich – das zeigt der Prolog mehr als deutlich – eine Vielzahl von Produktionen des Stadttheaters, die sich mit kulturellen Herausforderungen unserer Zeit befassen, auffällig eng an die „klassischen“ Vorgaben der Symmetrie. Stücke wie das zu Beginn des letzten Kapitels beschriebene Verrücktes Blut am Berliner Gorki Theater gebärden sich symmetrisch gemäß der doctrine classique und betreten – im abendländischwestlichen Sinne – in einem realistischen Gewande die Bühne: Protagonisten mit türkischer Migrationsgeschichte werden von Schauspielern mit eben dieser gespielt, die Einheit des Ortes und der Zeit des Geschehens sind ebenso gegeben. Doch nicht nur das Geschehen auf der Bühne, sondern das gesamte Theatersetting entspricht der...

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