Theater als Wirkungsstätte der bürgerlich-kolonialen (Selbstbewusstseins- und) Herrschaftsbildung
von Julius Heinicke
Erschienen in: Recherchen 148: Sorge um das Offene – Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater (05/2019)
Die Form bourgeoisen Theaters par excellence, das bürgerliche Trauerspiel, hat entscheidende Impulse aus dem britischen Kontext, der Culture of Sensibility des 18. Jahrhunderts, bekommen. Im viktorianischen Zeitalter des 19. Jahrhunderts wurde das Theater jedoch von der dortigen gesellschaftlichen Elite eher als gefährlich eingeschätzt:
In Großbritannien mieden ehrfürchtige Viktorianer Theatralität als eine äußerste betrügerische Mobilität. Sie bedeutet nicht nur Lüge, sondern Unstetigkeit des Charakters (fluidity of character), die die konstante Integrität des Ichs zersetzte. Das Theater, der Paria in der Viktorianischen Kultur, stand für das ganze gefährliche Potential der Theatralität, die die Authentizität auch der besten Individualität antasten konnte.92
Interessanterweise kehrt sich diese Bedeutung von Theater in den britischen Kolonien gänzlich um. Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde traditionell klassisches Theater von den Kolonistinnen und Kolonisten eingesetzt, um „ihrer“ Kultur zu frönen. In vielen Siedlerstädtchen entstanden Theater, welche jedoch moderne-avantgardistische Kunsttendenzen bewusst außen vor ließen: „The type of drama performed in the expatriate theatre clubs was significant. Plays at the colonial ‚little theatres‘ were very rarely from the avantgarde or radical European tradition, but were either pretentious productions from the classical canon, or middleclass domestic dramas.“93
Im Gegensatz zum biederen Viktorianer nutzte der Kolonist das bürgerliche Theater bewusst zur...