Internationale Kooperationen
Polyphonie im Namen des Volkes
Das Theaterprojekt „Volksrepublik Volkswagen“ am Staatsschauspiel Hannover
von Cao Kefei
Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: China (12/2015)
Assoziationen: Niedersachsen Theaterkritiken Asien
Xinjiang, Volkswagen, Karaoke, das „Rote Frauenbataillon“, Kopien, kleine Schwalbe, die Kunst des Krieges, die Hauptversammlung der Aktionäre, der Nationalkongress … Was haben diese zusammengewürfelten Wörter miteinander zu tun?
Wir sehen eine große Bühne, die einer Werkstatt nachgebaut ist. Vier deutsche Volkswagen-Expats und die deutsche Ehefrau eines Expats, dargestellt von Schauspielern, erzählen ihren Landsleuten in E-Mails von ihren Alltagserfahrungen und -erlebnissen in China. Unter ihnen ist eine chinesische Arbeiterin, von einer Tänzerin verkörpert, die sich wortlos über die gesamte Bühne bewegt, tanzt und am Schluss still ins Publikum blickt. Ein Musiker, der live Ambient-Sounds produziert, ist als Portier in einer kleinen Kabine zu sehen und tritt später überraschend als Sänger auf. Noch überraschender ist der chorische Auftritt von elf deutschen Schulkindern: Sie sagen die VW-Geschichte auf, lernen Chinesisch, machen akrobatische Übungen und kopieren revolutionäre Tanzbewegungen aus dem chinesischen Fernsehen. Dazu bewegen sich simulierte Maschinen imposant auf und ab. Auf einer LED-Anzeige laufen deutsche und chinesische Texte. Auf zwei Flächen werden Videosequenzen projiziert, die (überwiegend) Regisseur Stefan Kaegi auf seiner Recherchereise durch China aufgenommen hat. Das Text- und Videomaterial basiert auf zahlreichen Begegnungen und Gesprächen in China und Deutschland, die das Dokumentartheaterstück „Volksrepublik Volkswagen“ mittels komplexer theatraler Mittel im Oktober 2014 am Schauspielhaus Hannover zu einer Polyphonie verwob.
Als mir Regisseur Stefan Kaegi, Mitglied des Performancekollektivs Rimini Protokoll, in der Vorbereitungsphase von dem Projekt erzählte, weckte es sofort meine Neugierde. VW und das Thema Auto sind mit meinem Leben auf gewisse Art verbunden. Als ich in Shanghai mein Deutschstudium abschloss, lief das VW-Joint-Venture dort gerade auf Hochtouren. Wir Absolventen waren als künftige Dolmetscher gefragt wie heiße Semmeln. In den folgenden Jahrzehnten habe ich miterlebt, wie die (deutsche) Autoindustrie in ganz China rasant expandierte, wie wir in Beijing stundenlang im Stau von sich stetig vermehrenden Autos steckten, wie ein Freund wegen der vielen Käufer auf der Warteliste monatelang sehnlichst auf einen VW-SUV wartete, wie unser Himmel immer öfter von Smog heimgesucht wurde und man ohne Atemschutzmasken nicht rausgehen konnte. VW eignete sich fantastisch als Brennglas, um die Facetten der komplexen Realität zu reflektieren. Ich sagte Stefan Kaegi natürlich zu und stieg als Kodramaturgin ins Projekt ein (in Deutschland eine sehr umfassende Berufsbezeichnung).
Meine erste Aufgabe bestand darin, dem Regisseur für seine zweite Recherchereise nach China aus meinem Bekanntenkreis hochrangige Repräsentanten aus Justiz und Wirtschaft als Gesprächspartner zu vermitteln. Nach langem Hin und Her sagten zwei das Treffen jedoch ab. Die Themen waren ihnen schlicht zu unberechenbar – noch dazu mit einem unbekannten Ausländer. Einfach zu viel Risiko! Ich war enttäuscht, konnte ihre Haltung aber dennoch nachvollziehen. Mir wurde wieder einmal bewusst, wie vorsichtig wir sind, fremden Menschen offen zu begegnen. Im geschützten privaten Kreis reden wir offenherzig. Sobald wir aber den vertrauten Zirkel verlassen, zeigen wir ein anderes Gesicht. Ich weiß nicht, ob ich mich an der Stelle meiner Bekannten anders verhalten hätte.
Stefan Kaegi brachte von der Reise trotzdem sehr viel Material mit. Ich begann, mich damit zu beschäftigen, das war kurz vor Probenbeginn. Auf der großen Probebühne in Hannover traf ich ein buntes Team aus unterschiedlichen Nationen, von Asien über Europa bis Südamerika. Wenn ich die Kinder mitrechne, waren es fast dreißig Leute (ein solches Szenario möchte ich gern einmal in China erleben). Auf einem langen Tisch lagen Bücher und Dokumente, in die jeder Projektmitwirkende hineinlesen konnte. Die Proben liefen auf unterschiedlichen Ebenen ab. VW-Mitarbeiter kamen zu uns, denen wir viele Fragen stellten; der Regisseur führte ein Skype-Gespräch mit einem Menschenrechtsaktivisten, an dem wir teilnahmen; wir besuchten das VW-Werk in Hannover, schauten Videofilme aus China an. Die japanische Choreografin Miki Shoji trainierte hart mit den Schauspielern und arbeitete mit der Tänzerin; der Musiker probierte mit neu komponierten Sounds; ich brachte den Kindern mit Freude chinesische Kinderlieder bei. Im Verlauf der Proben straffte und ergänzte Stefan Kaegi in Zusammenarbeit mit den Dramaturgen den Text immer wieder, stellte ihn um und feilte daran bis kurz vor der Premiere. Entsprechend wurde das mit dem Text eng verbundene Videomaterial angepasst. Wenn nicht die Premiere näher gerückt wäre, hätte es ein nicht endender Prozess werden können.
Der wesentliche Teil der Proben bestand in der Arbeit mit den Schauspielern. Anders als bei den Projekten von Rimini Protokoll wurden die Expats diesmal von Schauspielern gespielt. Die Bühne wurde andeutungsweise aufgebaut. Die Schauspieler trainierten und übten tänzerische Bewegungen ein, auch Tai-Chi und Kung- Fu. Sie probierten, chinesische Karaoke nachzusingen, was allen großen Spaß machte. Sie lernten mit mir, chinesische Namen auszusprechen, was nicht zu unterschätzen war, auf beiden Seiten war sehr viel Geduld erforderlich. Ich wunderte mich immer, wie schnell die deutschen Schauspieler den Text und die Figur einstudierten. Abends spielten sie im Repertoire immer eine andere Figur, sie mussten also ständig zwischen den Identitäten wechseln. Die Schauspieler betrieben einen großen Aufwand, um sich der neuen Identität anzunähern, sie probierten unterschiedliche Spielweisen aus, um eine Szene nach der anderen entstehen zu lassen. Dabei zeigte der Regisseur zu meiner Bewunderung sehr viel Geduld.
Zwei Wochen vor der Premiere zogen wir auf die große Bühne des Theaters um. Es war aufregend zu beobachten, wie der dokumentarische Charakter des ursprünglichen Materials hier seine künstlerische Wirkung entfaltete und damit einen Raum eröffnete, der weit über die persönlichen Erzählungen hinausreichte. Gleichzeitig merkte ich aber, wie die Intimität, die auf der Probebühne geherrscht hatte, hier ein wenig verloren ging. Besonders wenn die Schauspieler frontal zum Publikum erzählten und zu forcierten Gesten tendierten. Dann kam mir unwillkürlich der Gedanke zur (unnötigen) Frage: Was hat er oder sie gestern Abend gespielt? Ich fühlte mich immer angesprochen, wenn ein Schauspieler direkt auf mich schaute und erzählte.
Als ich in der letzten Probenphase selbst für eine Videosequenz mitspielte, machte mir das viel Spaß. Ich nahm mich als skypende Ingenieurin auf. Diese Videoclips bildeten einen Bestandteil der Aufführung und bereicherten sie um die Perspektive einer im deutschen VW-Werk tätigen Chinesin. Was ich zunächst eher trivial fand, heiterte das deutsche Publikum sehr auf. Die Aufführung würde ich gern in China erleben und sehen, wie das Publikum dort auf die Expats reagiert. Das Spannende an dem Prozess waren die Vielschichtigkeit und die Offenheit, mit der sich die verschiedensten Menschen mitsamt den Bühnenmaschinen und die unterschiedlichen Stimmen mit dem Publikumslachen zu einer einzigartigen Polyphonie zusammenfügten.
Im Dezember 2014 las ich den folgenden Bericht in einer deutschen Zeitung: „Fast 40 Prozent aller Autos der Konzernmarken VW, Audi, Škoda, Seat, Porsche, Bugatti, Bentley und Lamborghini werden mittlerweile in China abgesetzt (…) Volkswagen verdient in diesem Jahr rund 60 Prozent des Konzern-Nettoergebnisses in China.“ Wenn sich Volkswagen mit der Volksrepublik zusammenschließt, wenn die Wirtschaftsmacht mit der politischen Macht Hand in Hand geht, wenn das Kapital der neu erfundene Gott ist, was bedeutet das alles für das „Volk“? Wer ist das Volk? Wie kann sich das Individuum angesichts dieser Realität verhalten? Was für eine Welt werden wir den Nachkommen dann hinterlassen? Viele drängende Fragen hat die Aufführung „Volksrepublik Volkswagen“ aufgeworfen. Auch in meiner Wahrnehmung hat sich etwas verschoben. Als ich Anfang 2015 in Beijing war, stand ich auf der Straße und sah die Autos an mir vorbeisausen. Diesmal schien es noch mehr große und teure Jeeps und SUVs zu geben als ein halbes Jahr zuvor. Ein Bild war mir immer gegenwärtig: Atemschutzmasken tragende Kinder, die sich in einer riesigen leeren Fabrik befinden. Sie arbeiten wie Roboter, schnell, immer schneller. Mir schien die Welt mit breiteren Straßen und höheren Wolkenkratzern ringsum viel irrealer als das Bild. Das Bild ist die Schlussszene der Aufführung. Es hat mich nicht mehr losgelassen. //