Theater der Zeit

Einleitung

von Jenny Schrödl und Doris Kolesch

Erschienen in: Recherchen 21: Kunst-Stimmen (11/2004)

Anzeige

Seit jeher fasziniert die menschliche Stimme, weckt sie Sehnsüchte, Fantasien und Emotionen, erzeugt aber auch Angst und Abwehr. Wir fühlen uns von Stimmen angezogen, verletzt oder betroffen - immer stellt die Stimme eine spezifische Bezugnahme zum anderen Menschen her. Das Faszinosum der Stimme, ihre appellative und affektive Kraft zieht sich mit unterschiedlichen Bedeutungen und Wertungen wie eine klangliche Spur oder ein roter Faden durch die abendländische Kulturgeschichte, angefangen mit den mythologischen Erzählungen der Sirenen und der Echo.

Lange Zeit blieb es ein Traum, die flüchtige Stimme festzuhalten und ihre Sterblichkeit zu bannen; über Jahrhunderte diente allein die Schrift als mehr oder weniger ausreichendes Archiv ihrer Speicherung und Erinnerung. Dies änderte sich erst spät in der Geschichte der Medientechnik, nämlich mit der Erfindung neuer akustischer Medien und Technologien im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Seit dieser Zeit kann die flüchtige Stimme bearbeitet, konserviert und reproduziert, ja kann sie sogar artifiziell hergestellt werden, seit dieser Zeit auch expandiert ihre Macht in Zeit und Raum. Ob damit Körperlichkeit wie Sterblichkeit nur noch zu einer vergangenen Epoche menschlichen Daseins gehören, ist ohne Frage zu bezweifeln. Gleichwohl sind Medientechnologien zur Übertragung, Reproduktion und Speicherung von Stimmen nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken: Stimmen von Video- und Tonbändern, von Radio, Film und Fernsehen, vom Handy wie vom Sprachcomputer gehören heute ebenso zu unserer Welt wie körperlich erklingende Stimmen.

Die akustischen Technologien und Medien bringen neuartige, andere Stimmen zu Gehör. Sie lassen aber auch Ängste der Ersetzbarkeit und des Verlusts des Originals aufkommen, sie verwirren den ontologischen Status der Stimme und lassen oftmals unentschieden, um welches Stimmliche, um welches Seiende es sich handelt. Ist die Stimme live oder aufgezeichnet, geschnitten, bearbeitet oder »unplugged«, ist es eine reale menschliche oder eine synthetische Stimme? Mit der Mediatisierung der Stimme sind ungeahnte Möglichkeiten ebenso verbunden wie ernstzunehmende Problematiken, rücken Fragen der Entkörperlichung und Desubjektivierung, der Ontologie und Epistemologie, der Ästhetik wie Ethik ins Zentrum der Diskussion.

In keinem anderen Bereich jedoch treten die veränderten Stimm- und Hörtechniken, ihre Chancen wie Risiken so stark in den Vordergrund wie in der Kunst. Ob im Theater oder der Performance-Kunst, im Hörspiel oder Film, in Video- oder Installation Art - in den Künsten wird die stimmlich-auditive Dimension menschlicher Existenz und ihre technologisch-mediale Verfasstheit bearbeitet, ausgestellt und thematisiert. Erkundet wird der Ort der Stimme zwischen Sprache und Körper ebenso wie die Musikalität des Sprechens oder die Räumlichkeit des Klangs. Im Spannungsverhältnis von Live-Performance und Aufzeichnung thematisiert die Gegenwartskunst den Zusammenhang von Stimme und Identität, exponiert die Materialität und Medialität von Stimmen, fragt danach, wie Technologien unsere Wahrnehmung verändern und konstelliert das Zusammenspiel von Akustischem, Visuellem und Imaginärem immer wieder neu.

Die in diesem Band versammelten Beiträge beschäftigen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit den Kunst-Stimmen der Gegenwart. Die Aufsätze gehen auf das internationale Symposium »Kunst-Stimmen. Auditive Inszenierungen zwischen Live-Performance und Aufzeichnung« zurück, zu dem Doris Kolesch, Jenny Schrödl und Daniel Schreiber vom Teilprojekt »Stimmen als Paradigmen des Performativen« im Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« im März 2004 nach Berlin eingeladen hatten.

Mit dem Titel Kunst-Stimmen fokussieren wir die vielfältigen künstlerischen Auseinandersetzungen mit mediatisierten wie körperlichen Stimmen. Zudem verstehen wir unter Kunst-Stimmen die medialen Erscheinungsformen der Stimme in Geschichte und Gegenwart sowie ihre Auswirkungen auf Körper und Sprache, Raum und Zeit, auf Wahrnehmung, Affektivität und Responsivität. Nicht zuletzt implizieren Kunst-Stimmen aber auch eine Reflexion über die Künstlichkeit der Stimme, über die Techniken des Körpers und des Sprechens und über die sozialen, politischen wie ästhetischen Formierungen der Stimme im Kontext ihrer jeweiligen Zeit und Kultur.

In dem Kapitel Stimmkörper reflektiert Doris Kolesch über die Verfasstheit der Stimme als ein sowohl natürliches als auch künstliches Phänomen und erkundet vortechnologische, mythische ebenso wie technische Stimmszenarien hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit für heutige Darstellungs- und Wahrnehmungsformen. Hans-Thies Lehmann entwickelt aus einer erfahrungstheoretischen Perspektive das Spezifische der Live-Performance des Theaters, das er als Verknüpfung von Stimme, Zeugenschaft und Verantwortung präzisiert. Am Beispiel der Inszenierungen von Rimini Protokoll beschäftigt sich Miriam Dreysse mit dem Verwirr-Spiel von Realität und Artifizialität, von Alltag und Theater, das sich insbesondere als stimmliche Inszenierung von Authentizität durch den Einsatz von Laienschauspielern vollzieht.
In Stimmtechnologien präsentiert John Durham Peters zehn Thesen zum Zusammenhang von Stimme und modernen Medien und Brandon LaBelle erkundet in poetisch-reflexiven Streifzügen, die von akustischen Experimenten auf der CD begleitet werden, die Intimität des Flüsterns und den Zusammenhang von Atmen, Sprechen, Berühren und Lieben. Während die Rockmusik traditioneller Wei se mit Authentizität und Selbstexpression assoziiert ist, interessiert sich Philip Auslander in seinem Beitrag gerade für Strategien des nicht-authentischen Singens und Sprechens im Glam Rock, die er als bewussten Protest gegen die Ideologie des Authentischen in der Rockmusik wertet.

Das Kapitel Stimmbilder wird eingeleitet von Helga Finter, die zwei Ursprungsmythen der Stimme, nämlich das Totengespräch und das Bauchreden, exponiert und ihre Dramatisierung auf den Bühnen des Gegenwartstheaters verfolgt. Jenny Schrödl erkundet Stimmräume anhand von Audioinstallationen von Laurie Anderson und Janet Cardiff, während Hermann Kappelhoff sich am Beispiel des Tonfilms mit den Filmstimmen von Greta Garbo und Marlene Dietrich befasst.

Kommentiert, erweitert, hinterfragt, ergänzt und konterkariert werden diese Überlegungen durch Reflexionen und Notizen der Künstler/innen Stefan Kaegi, Kathrin Röggla und Leopold Verschuer sowie der Philosophin Alice Lagaay und der Musikwissenschaftlerin Christa Brüstle. Ihre Texte durchziehen als kontrapunktische Pausen, als einflüsternde, beiseitegesprochene Neben- und Gegen-Stimmen oder auch als Fürsprecher des Mündlichen den Band. Die beiliegende CD bietet zudem die Gelegenheit, sich Ausschnitte aus Audioarbeiten von Haug/Kaegi/Wetzel, Hygiene Heute, Kathrin Röggla, Leopold von Verschuer und Brandon LaBelle anzuhören. So versucht dieser Band in der Kombination textueller, akustischer und visueller Darstellungs- und Wissensformen das Spektrum des Stimmlich-Auditiven auszuloten.

Der Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« hat die Organisation der Tagung wie auch die Publikation des vorliegenden Bandes unterstützt. Unser besonderer Dank gilt Michael Conrad, Björn Frers, Anne Holper, Jonas Liepmann, Katharina Rost, Daniel Schreiber und Mareike Stoll, die bei der Durchführung der Tagung und der Drucklegung des Buches tatkräftig geholfen haben. Harald Müller und sein Team von Theater der Zeit zeigten sich von Beginn an begeistert und fasziniert von Kunst-Stimmen und ermöglichten die Aufnahme in die Reihe Recherchen.

Berlin, im September 2004

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz
Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York