überblick
Theater in Kanada
Zeiten der Erkenntnis
von Marcus Youssef
Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Kanada (09/2021)
Assoziationen: Nordamerika
Kanada ist ein ungeheuer großes Land mit einer kleinen Bevölkerung, das zahlreiche unterschiedliche Kulturen und Traditionen umfasst. Dennoch agiert das englischsprachige kanadische Theater nach wie vor als zusammenhängende Szene, in der Kulturschaffende aus unterschiedlichen Regionen regelmäßig zusammenarbeiten. Die großen Theater neigen dazu, thematisch ähnliche Stücke zu produzieren. Die projektbasiert arbeitenden, innovativen Künstler:innen teilen in der Regel dieselben Werte, reagieren auf dieselben Einflüsse, touren durch dieselben Spielstätten und arbeiten mit ähnlichen ästhetischen Ansätzen. Québec allerdings ist anders, eine Welt für sich, die sich als unabhängige Nation betrachtet. Zwar arbeiten anglokanadische und Québecer Künstler:innen und Institutionen gelegentlich zusammen, meist durch die Übersetzung und Neuproduktion von Stücken, doch bleibt dies die Ausnahme. Die beiden Kulturen unterscheiden sich stark. Sie bleiben getrennt durch Geschichte, formale Tradition und – am entscheidendsten – durch ihre Sprache. Wie der Großteil der nordamerikanischen Gesellschaft befindetsich sich das kanadische Theater außerhalb von Québec an einem Wendepunkt. Im Verlauf der letzten 20 Jahre hat sich dieser Bereich bedeutend verändert. Die Verbreitung von Arbeiten, die wir als postdramatisch bezeichnen könnten, hat zugenommen, ebenso wie das Ausmaß an nationalem und internationalem Tourneebetrieb. Dies verdanken wir hauptsächlich einer globalisierungsbedingten Verschiebung der Förderprioritäten des Canada Council for the Arts und einer kleinen Anzahl von Festivals wie PuSh und Talking Stick in Vancouver, FTA – Festival TransAmériques (S.52) in Montréal, Luminato, Progress, Summerworks in Toronto, dem CanadaHub beim Edinburgh Festival und dem Ende der 2010er Jahre aufgelösten Wanderfestival Magnetic North, um nur die prominentesten zu nennen.
Wesentlich wichtiger als diese Veränderungen sind jedoch zwei andere Entwicklungen, die gegenwärtig die Art und Weise auf den Kopf stellen, wie Künstler:innen und Publikum Theater in diesem Land erleben. Die erste ist schon seit ein paar Jahren im Gang: Die längst überfällige Anerkennung Indigener Theaterkünstler:innen und der Versuch, durch Förderung, Programmgestaltung und Ausbildung ihrer beinahe vollständigen Ausgrenzung seit der Begründung einer nationalistischen (sprich: weißen, europäischen) Theaterkultur in den 1950er Jahren entgegenzuwirken. Für all diejenigen, die Kanadas sorgfältig gepflegtem internationalem Ruf als Bastion progressiver Werte Glauben schenken, dürfte es ernüchternd sein, zu erfahren, dass die von der Regierung beauftragte Massey-Kommission, die 1949 die Rahmenbedingungen für Kultur in Kanada festlegte, Indigene Kulturen als „degeneriert“ bezeichnete. Die Kommission verlieh auch der Hoffnung Ausdruck, dass ihre Empfehlungen den „unweigerlichen Tod“ dessen beschleunigen würden, was wir heute als bis zu 100 Nationen kennen, die gegenwärtig mehr als 70 unterschiedliche, jahrtausendealte Sprachen sprechen. All diejenigen, die in den letzten fünf Jahren eine Aufführung in Kanada besucht haben und sich über das unweigerlich vor Spielbeginn ausgesprochene „land acknowledgement“ wunderten, der offiziellen Anerkennung, dass sich der Spielort auf dem unrechtmäßig annektierten Territorium einer der Indigenen Nationen befindet – dies ist der Grund dafür. Es handelt sich um einen kleinen, vielleicht auch armseligen Versuch, die Tatsache zu benennen, dass Kanada jahrhundertelang, bis weit in die 1990er Jahre hinein, einen kulturellen Genozid an den Indigenen Bewohner:innen dieses Landes verübte, ganz zu schweigen von der öffentlich abgesegneten Entführung und gewaltsamen Unterbringung von mindestens 150 000 Indigenen Kindern in staatlichen Umerziehungsinternaten. Die Auswirkungen auf die kleine Theatergemeinschaft sind komplex. Der Canada Council schuf ein eigenes Förderprogramm für Indigene Künstler:innen und Organisationen. Mittlerweile reißen sich Institutionen um die zahlreichen etablierten und auch einige weniger anerkannte Indigenen Künstler: innen, die sie bis vor ein paar Jahren noch vollständig ignorierten. Außergewöhnliche Künstlerinnen wie Laakuluk Williamson Bathory aus Nunavut sind nun im englischsprachigen Teil Kanadas weitaus bekannter. Laakuluk ist eine Performancekünstlerin vom Volk der Inuit, deren Arbeit ihre Wurzeln in einer provozierenden Maskenspieltradition hat. Gemeinsam mit der queeren weißen Theatermacherin und Musikerin Evalyn Parry, der ehemaligen Künstlerischen Leiterin von Kanadas bedeutendstem queeren Theater Buddies in Bad Times (S. 27) in Toronto, entwickelte sie die Performance „ Kiinalik: These Sharp Tools“ (2017). Beeindruckend vielschichtig und überraschend fröhlich navigieren die beiden Künstler: innen darin durch die komplexen und widerstreitenden Geschichten der Indigenen Kulturen und der weißen Siedler in Kanada und feiern damit internationale Erfolge. 2019 gründete das National Arts Centre in Ottawa, die kanadische Institution, die am ehesten einem Nationaltheater entspricht, das Indigenous Theatre (S. 42) als gleichwertigen Partner zu den bereits bestehenden englischsprachigen und französischsprachigen Abteilungen. Trotz ihres häufig betonten Einsatzes für die Versöhnung mit den Indigenen Völkern Kanadas hat sich die Regierung jedoch bislang geweigert, dieses neue Nationaltheater vollständig zu fördern.
Die zweite bedeutende Entwicklung ist die Tatsache, dass durch die Immigration nach Kanada die Anzahl nicht-weißer Theaterkünstler:innen bedeutend gestiegen ist, die sich nicht automatisch mit den hauptsächlich britischen und amerikanischen Theatertraditionen und dem damit verbundenen Werkkanon identifizieren. Trotz zwei Jahrzehnten politischer Entwicklung, Förderinitiativen und einer Menge Gerede hat der Großteil des kanadischen Theaters immer noch erheblichen Nachholbedarf, wenn es darum geht, eine Kultur hervorzubringen, die tatsächlich die Bevölkerung des Landes selbst widerspiegelt. Einige der spannendsten Arbeiten in Kanada stammen von nicht-weißen Künstler:innen in der Mitte ihrer Karriere, die den Kanon durch ihre spezifische Erfahrung hinterfragen und erweitern. Zwei Beispiele dafür sind die gefeierte multiethnische Produktion von David Frenchs „Salt-Water Moon“ (2016) und die monumentale Neuinterpretation der „Mahabharata“ (die wegen der Corona-Pandemie bislang nicht vor Publikum gezeigt werden konnte, Anm. d. Red.), beinahe 40 Jahre nach Peter Brook – beide inszeniert von dem Regisseur Ravi Jain aus Toronto (S. 18). Die Auswirkungen beider Entwicklungen lassen sich zunehmend in unseren bedeutendsten Institutionen beobachten. Nun, wo nach und nach die der Babyboomer-Generation entstammenden Künstlerischen Leiter:innen in Rente gehen, ernennen die Regionaltheater – das, was in Kanada am ehesten den Staatstheatern entspricht – zum ersten Mal Nachfolger:innen, die ihre Karrieren in den 1990er oder 2000er Jahren begonnen haben. Künstler: innen, die zum Widerstand gegen Stücke und Praktiken angetreten, die mit der Kolonialgeschichte verbunden waren und weder die Welt widerspiegelten, in der wir wirklich leben, noch die Art von Künstler:innen, die sie werden wollten. Weyni Mengesha bei Soulpepper, Nina Lee Aquino in der Factory, Mike Payette im Tarragon Theatre (S. 58), Brendan Healey bei Canadian Stage in Toronto, Jillian Keiley am National Arts Centre English Theatre in Ottawa und Ashlie Corcoran im Vancouver’s Arts Club sind nur einige Beispiele aus jüngster Zeit. Zum ersten Mal, seit ich denken kann, leiten nun nicht-weiße Künstler:innen, die den Status quo hinterfragen, Organisationen, die historisch bedingt auf ein überwiegend weißes, häufig konservatives Publikum aus der oberen Mittelschicht zugeschnitten waren. Gleichzeitig werden diese Institutionen nun offen dazu herausgefordert, Ressourcen zu teilen und sich als Plattform für eine wesentlich weiter gefasste, formal und politisch erfinderische Bandbreite von Kunstansätzen anzubieten, die die Künstler:innen des Landes und seine potenziellen Zuschauer:innengruppen so repräsentiert, wie es der Realität entspricht, egal wie viel Widerstand ihr weitgehend homogenes Abonnent:innen- und Sponsor: innenpublikum leisten mag. Da sich die gesamte kanadische Gesellschaft gerade grundlegend verändert und diese Intendant:innen nicht nur jünger und schlagfertiger sind, sondern auch über die Fähigkeit zum Teamwork und ein größeres soziales Bewusstsein verfügen, habe ich Anlass zur Hoffnung, dass sie Erfolg haben könnten. //