3.2 Multiple Polyperspektivität
von Theresa Schütz
Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)
Bereits in der Bezeichnung »Polydrama«, welche Joshua Sobol für Mankers Inszenierung von Alma entworfen hat, scheint auf, was für alle Aufführungen immersiven Theaters kennzeichnend ist: Wir haben es mit einer Theaterform zu tun, die eine lineare und sukzessive Rezeption von Szenen und Situationen verunmöglicht und der rezeptionsästhetischen Prämisse allwissender (vgl. Manker, 2012) oder gleich viel wissender Zuschauer*innen eine Absage erteilt.119 Die Vereinzelung der Zuschauer*innen und ihre Verteilung auf verschiedene szenische Räume und Figuren bringen mit sich, dass das Publikum die in Rede stehenden Inszenierungen nicht einfach nur unterschiedlich wahrnimmt und/oder interpretiert, sondern auch als ein Gefüge völlig unterschiedlicher Szenen und Situationen erlebt.
Sowohl das lateinische Präfix »multi« als auch das griechische Präfix »poly« bedeuten »vielfach« (Brockhaus, 2006, S. 77) bzw. »viel; mehr; verschieden« (ebd., S. 694), weshalb z. B. in der Narratologie »Verfahren, durch die ein Geschehen, eine Epoche, eine Figur oder ein Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln beschrieben wird« (Nünning/Nünning, 2000, S. 13) synonym entweder als Multi- oder als Polyperspektivismus bezeichnet werden (vgl. u. a. Lindemann, 1999, S. 48). Ich möchte hier allerdings auf eine Differenzierung drängen. Denn während das Präfix »multi« in verschiedenen gängigen Wortverbindungen vornehmlich das Viele/Vielfache einer Sache anzeigt (wie z. B. Multimillionär, Multitasking, multimedial, multinational), impliziert die Verwendung »poly« in unterschiedlichsten Bedeutungskontexten stärker eine Vertikalität, ein gleichzeitiges Nebeneinander verschiedener Dinge (wie z. B. Polytheismus, Polygamie, Polyamorie, polytechnisch).
Alma ist deshalb ein Poly- und kein Multidrama, weil es im Modus gleichzeitigen Nebeneinanders verschiedene Perspektiven auf die vervierfachte Protagonistin und historische Persönlichkeit Alma Mahler-Werfel einnimmt. Die Perspektivvielfalt des Dramas bezieht sich zudem auf die verwendeten Quellen (Biografien, Autobiografien, Briefe und nachgelassene Schriften), auf das anachronistische Nebeneinander verschiedener dargestellter Zeiten, Orte und Figurenkonstellationen sowie auf den Rezeptionsmodus für die vereinzelten Zuschauer*innen-»Kameras«, die sich ihr ganz eigenes Bild von Alma machen können.
Mit Rekurs auf die Begriffsverwendung von »Perspektive« in der Kunstgeschichte, welche bekanntlich stärker auf die etymologische Dimension des Wahrnehmens und einen subjektbezogenen, primär visuellenBlickwinkel auf die repräsentierte Weltversion bezogen ist, haben Zuschauer*innen im immersiven Theater die Freiheit, sich von einer zentralperspektivisch angelegten Betrachtungsweise der Szenen zu emanzipieren und beständig variierende Betrachter*innen-Positionen einzunehmen. Es gibt im immersiven Theater nicht die eine voreingestellte Perspektive auf die (re-)präsentierten Ereignisse und es gibt auch keine zentralperspektivisch konfigurierte Position des Überblicks, sondern der Mikrokosmos eröffnet den Zuschauenden gerade die Option, verschiedene partikulare Perspektiven sowohl kennenzulernen als auch selbst im Sinne räumlicher und haltungsbezogener Positionierung einzunehmen.
Qua Mit-Anwesenheit in der szenografierten, mit Darsteller*innen geteilten Weltversion lernen Zuschauer*innen Letztere nicht nur über dialogische Szenen oder Gesprächssituationen kennen. Auch alle Dinge, Materialien, Stoffe, Klänge, Duft- und Geschmacksnoten werden zu potentiellen nicht-menschlichen Bedeutungsträgern und Erzählinstanzen der gestalteten Weltversion. Im Grunde bildet der gestaltete theatrale Mikrokosmos zugleich modellhaft die Komplexität eines außertheatralen Makrokosmos ab. Es wird eine Weltversion dargeboten, die Zuschauer*innen in ihrer narrativen Reichhaltigkeit und semantischen Überfülle gar nicht mit einem Besuch erfassen können. Wie angedeutet, verunmöglicht dies bereits die Tatsache, dass Zuschauer*innen pro Aufführung immer nur eine kleine Auswahl an Szenen und Räumen, Figuren und ihrer fiktiven Biografien überhaupt miterleben können. Im Verbund mit der dramaturgischen Maßnahme, Zuschauer*innen, die gemeinsam kommen, frühzeitig voneinander zu trennen, damit sie unterschiedliche Erfahrungen machen, hat dies zur Folge, dass Zuschauer*innen immersiver Aufführungen viel stärker als nach ›klassischen‹ Theateraufführungen den Austausch suchen, um im Gespräch die verschiedenen Eindrücke und Erfahrungen zusammenzutragen, mehr von diesem Mikrokosmos zu verstehen und sich damit der Komplexität weiter anzunähern.120 Die Tatsache, dass man mit einem Besuch nicht alles erlebt, was es potentiell zu erleben gäbe, kann bei einigen Zuschauer*innen Neugier und Interesse steigern und damit Mehrfachbesuche begünstigen.
Was sich aus all diesen Dimensionen des Polyperspektivischen herauskristallisiert, ist der Befund einer eminenten Singularisierung der Aufführungserfahrung seitens der Zuschauer*innen immersiver Theateraufführungen.121 Für die Analyse einer Theaterform, die sich aus einer Vielzahl von Begegnungen an der Schnittstelle von multisensorischem Aufführungsgeschehen und fiktiver Weltversion im Modus einer geteilten Wirklichkeitssimulation ergibt, werden damit vor allem die Dimensionen des Polyperspektivismus zur methodischen Herausforderung, die das Mit-Wirken des Publikums betreffen. Wie kann die Vielfalt, wie sich verschiedene Zuschauer*innen in das Aufführungsgeschehen sowie in einzelne Situationen einbringen und diese konstitutiv mitformieren, empirisch und analytisch eingeholt werden?
Trotz zur Anwendung kommender manipulativer Strategien der Lenkung bleibt es den teilnehmenden Zuschauer*innen größtenteils selbst überlassen, wann sie sich mit wem, wie lange in welchen szenischen Raum begeben und auch, wie intensiv sie sich jeweils einzubringen gedenken. Der Aspekt der Singularisierung betrifft deshalb nicht nur die Tatsache, dass alle Zuschauer*innen unterschiedliche Szenen, Gespräche, Situationen miterleben und damit auch unterschiedliche Inhalte erleben und unterschiedliche Perspektiven auf die diversen fiktionalisierten Akteur*innen in ihrer simulierten Lebenswelt erhalten. Als singulär lassen sich die Aufführungserfahrungen vor allem auch deshalb beschreiben, weil sie in so hohem Maße vom affektiven und emotionalen »Commitment« (vgl. Kolesch et al., 2019) der teilnehmenden Zuschauer*innen abhängen. Nach all meinen eigenen Zuschauer*innen-Erfahrungen und zahlreichen Gesprächen mit anderen Zuschauer*innen kann ich behaupten, dass in immersiven Aufführungen mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr viele Zuschauer*innen von irgendetwas besonders stark affiziert und in der Folge auch potentiell vereinnahmt werden. Die Mehrheit der Zuschauer*innen wird in den in Rede stehenden Aufführungen zu irgendeinem Zeitpunkt von irgendetwas oder jemandem stark emotional getriggert, auch wenn dies jeweils sehr Verschiedenes sein kann. So kann z. B. eine bestimmte Sequenz in SIGNAs Söhne & Söhne wie die Begegnung mit der dominanten und zugleich sehr mütterlichen Ilil Land-Boss alias Roberta Sohn in der Abteilung für Kindheitsangelegenheiten in der Art und Weise, wie sie einen zwischen Plüschtieren und Spielzeug nach der eigenen Kindheit befragt, je nach Gast und Involvierungsgrad äußerst unterschiedliche, aber allesamt als besonders intensiv empfundene reziproke Affizierungsdynamiken auslösen. Diese können situativ zur Folge haben, dass Zuschauerin A sich in eine kindliche Stimmung versetzt fühlt und sich dieser genussvoll hingibt, dass sich Zuschauer B an seine verstorbene Mutter erinnert, darüber traurig wird und seine Gefühle Roberta gegenüber offen und ehrlich mitteilt oder dass Zuschauerin C sich derart überfordert von der Situation fühlt, dass sie die Aufführung verlässt.122 An diesem Beispiel wird deutlich, dass die methodische Herausforderung zuvorderst im analytischen Umgang mit der vom multiplen Polyperspektivismus der Form in Gang gesetzten Singularisierung und der mit ihr verknüpften Pluralisierung von Zuschauer*innen-Erfahrungen liegt.
Vor diesem Hintergrund erweist es sich als äußert prekär und unzureichend, wenn man wie ich an wirkungsästhetischen Dimensionen wie Prozessen der Vereinnahmung interessiert ist, die über das eigene Zuschauer*innen-Erleben hinausweisen, ausschließlich über die eigenen miterlebten Situationen und Szenen zu schreiben. Vielmehr drängt es sich nach meinem Dafürhalten auf, bei der Analyse neben der eigenen Perspektive gezielt weitere Zuschauer*innen-Perspektiven auf das Gesehene und Erlebte einzubeziehen, um auf diese Weise der Polyperspektivik und Komplexität des theatralen Mikrokosmos und der mit ihnen einhergehenden Vielfalt singulärer Aufführungserfahrungen gerecht zu werden. Nicht zuletzt auch, um zu prüfen, wie singulär diese Erfahrungen am Ende wirklich sind, und/oder ob sich bei aller Vereinzelung und Individualisierung nicht eben auch strukturelle Ähnlichkeiten seitens der erinnerten, singularisierten Erfahrungs- und Wirkungsbeschreibungen beobachten lassen.
119 Dies gilt zumindest, wenn wir von Erstbesucher*innen einer Aufführung ausgehen.
120 Dies ging deutlich aus den von mir durchgeführten Interviews hervor.
121 Immersives Theater ließe sich mit Andreas Reckwitz auch als paradigmatische Theaterform für die von ihm herausgearbeitete, gegenwärtige (westliche) Gesellschaft der Singularitäten beschreiben. Schließlich können die in Rede stehenden Aufführungen mit Reckwitz durchaus als »Singularitätsgüter« (Reckwitz, 2017, S. 126), für die neue spätmoderne Mittelklasse bezeichnet werden, insofern es sich um singuläre Kunstereignisse an singulären Aufführungsorten mit dem Versprechen, singuläre Aufführungserfahrungen zu produzieren, handelt. Es ist ebendiese hohe Valorisierung von Singularität im Sinne von Besonderheit und Einzigartigkeit, die Reckwitz in der gegenwärtigen Gesellschaft als ein dominantes Distinktionsmerkmal von Mitgliedern der neuen Mittelschicht ausweist.
122 Alle drei Optionen gehen auf beschriebene Situationen in meinen Interviews zurück, vgl. PH 2016, LZ 2016 und MT 2016. Eine Liste der geführten Interviews findet sich im Anhang.