Theater der Zeit

Auftritt

Bielefeld: Doppelter Boden

Theater Bielefeld: „F“ (UA) nach dem gleichnamigen Roman von Daniel Kehlmann. Regie Clara Weyde, Ausstattung Katharina Philipp

von Anne Reinert

Erschienen in: Theater der Zeit: Wie es euch gefällt – Christian Friedel vertont Shakespeare (12/2016)

Assoziationen: Theater Bielefeld

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Hier ist alles Täuschung und Tarnung. Das fängt schon beim Bühnenbild von Katharina Philipp an, die einen riesigen Aktenschrank mit vielen gleich großen Türen entworfen hat, der sich nicht nur über die Rückwand, sondern auch über den Boden erstreckt, was für Verwirrung sorgt. Denn so ist unklar, wo oben und wo unten ist. Mit dieser Perspektivverschiebung wird ein Spiel getrieben – wie mit vielem anderen in dieser Inszenierung.

Die Szenerie passt zu Daniel Kehlmanns Roman „F“, den Clara Weyde im Theater am Alten Markt in Bielefeld kongenial auf die Bühne bringt. Die junge Regisseurin hat nach einem Studium an der Theaterakademie Hamburg unter anderem am HAU in Berlin, am Thalia Theater in Hamburg und am Theater Bremen inszeniert. Im vergangenen Jahr wurde sie für ihre Realisierung von B. Travens „Das Totenschiff“ mit dem Start-Off-Preis des Hamburger Theater Lichthof, der Hamburgischen Kulturstiftung und der Theaterakademie Hamburg ausgezeichnet.

Mit Dramaturgin Katrin Enders hat Weyde die Romanhandlung gestrafft. Sie lassen Schlenker in der Handlung aus, streichen Nebenfiguren und montieren den Text teilweise anders als im Buch. So konzentriert sich das Stück geschickt auf den Kern der Geschichte, auf die Katastrophe, die sich hier nach und nach anbahnt und aus der Sicht der Brüder Martin (Jan Sabo), Iwan (Georg Böhm) und Eric (Cédric Cavatore) sowie Erics Tochter Marie (Isabell Giebeler) erzählt wird.

Ist alles nur Schicksal in diesem Leben? Fatum also, für das das titelgebende „F“ stehen könnte? Als Hypnotiseur Lindemann auftritt und dem Geschehen den entscheidenden Dreh gibt, sieht alles danach aus. Er ist es, der in seiner Show Vater Arthur Friedland auf die Bühne holt, was zum entscheidenden Wendepunkt im Leben dieses erfolglosen Schriftstellers wird – und damit auch im Leben seiner drei Söhne. Denn Arthur macht sich nach diesem Auftritt auf und davon und lässt Iwan, Eric und Halbbruder Martin zurück.

Gespielt wird Arthur Friedland in dieser Szene sinnigerweise von den drei Darstellern seiner Söhne. Fortan im Schatten ihres übermächtigen Vaters stehend, der in der Ferne doch noch ein erfolgreicher Schriftsteller wird, schlagen sie ganz unterschiedliche Wege ein. Etwas jedoch haben sie gemeinsam: Alle verraten im Grunde das, was sie vorgeben zu sein. Martin wird katholischer Pfarrer, glaubt aber nicht an Gott. Eric verliert als Wirtschaftsberater das gesamte Vermögen eines sehr reichen Kunden. Ausgerechnet die große Wirtschaftskrise wird ihn vor dem Ruin retten. Iwan schließlich gilt als talentierter Künstler, erreicht mit seinen Bildern aber nur Mittelmaß. Reich wird er schließlich als Kunstfälscher.

Immer wieder taucht der Hypnotiseur als Rädchen im Getriebe auf. Hat er wirklich eine solche Macht über andere? Oder machen bloß die anderen ihn so mächtig? So wie Iwan, der Lindemanns Hypnosebefehlen eigentlich leicht widerstehen könnte, aber trotzdem mitspielt, um ihn nicht zu blamieren.

Daniel Kehlmann treibt in seinem Roman mit dieser Schicksalshaftigkeit bzw. -ergebenheit ein cleveres Spiel. Auch auf der Bielefelder Bühne geht dieses Konzept auf. Denn wo sonst als im Theater, wo einst die Helden der griechischen Tragödie ihrem Schicksal nicht entkommen konnten, haben solche Geschichten ihren Platz. Die Ironie ist: Hier könnten alle entkommen. Doch sie machen mit, aus Angst, ihre brüchige Fassade könnte einstürzen. Eric etwa schluckt lieber Psychopharmaka, als einzugestehen, dass er versagt hat.

Auch Clara Weyde spielt in ihrer Inszenierung mit der Ambivalenz von Sein und Schein. Der geschickt zusammengebaute Text erzählt manche Szenen mehrmals aus verschiedenen Perspektiven und enthüllt so nach und nach, wie es zur Katastrophe kommen konnte. Die Schauspieler betreten dabei aus allen Richtungen die Bühne. Sie steigen hinten aus dem Schrank oder tauchen aus dem Boden auf. Dabei zeigt sich, dass sich hinter den Türen oft unerwartete Räume verbergen, die als Bewusstseinsräume gedeutet werden können. Einmal etwa stößt Martin den als Bettler auftretenden Hypnotiseur in Panik in ein Loch im Boden zurück. Ein Akt der Verdrängung? Lindemann jedenfalls ist am Ende nichts anderes als eine Variante des übergroßen Vatersymbols, das hier alle beherrscht.

Marie erzählt, wie Großvater Arthur, der hin und wieder dann doch zu Besuch kommt, mit ihr zu einem Wahrsager ging, nur um ihr am Ende zu sagen, sie solle sich ihre Zukunft einfach aussuchen. Ist das die erlösende Weissagung? Oder haben wir es ohnehin selbst im Griff, was passiert? Es macht jedenfalls Spaß, diesem nicht nur im Hinblick auf das Bühnenbild buchstäblich doppelbödigen Spiel zu folgen. //

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