thema II: theaterland baden-württemberg
Alles wird Ufer
Anspruchsvoll unaufgeregt – Die Programmatik des Zimmertheaters Rottweil
Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)
Assoziationen: Baden-Württemberg Peter Staatsmann Bettina Schültke
Weg von den Metropolen, mitten im Bühnen-Bermuda-Dreieck zwischen Konstanz, Tübingen und Freiburg, da liegt das Zimmertheater Rottweil: das einzige professionelle Theater im Umkreis von 60 Kilometern. Momentan ist es auch deshalb etwas Besonderes, weil dort seit 2013/14 die Intendanten Peter Staatsmann und Bettina Schültke überregional beachtenswerte Arbeit leisten. Beide sind von großen Häusern, vom Deutschen Theater Berlin, von der Volksbühne und vom Residenztheater in München her bekannt. Bettina Schültke war Chefdramaturgin in Weimar, Peter Staatsmann Schauspielchef in Nordhausen.
Und jetzt Rottweil? Ja, warum nicht? Die Entscheidung, gemeinsam dorthin zu gehen, entstand nicht nur angesichts einer mittelfristigen Verortung von Beruf und Familie, sondern ermöglichte es auch, sich mit der „Rückkehr zu den Wurzeln des Theaters“, so Staatsmann, neu aufzustellen. Im örtlichen Abstand zu den Großbühnen entwickelten die beiden eine Programmatik, die auf Distanz geht zu den lärmenden, postdramatischen Hypes der Zentren: ein forderndes Theater des Nachdenkens, das Schauspieler und Texte ins Zentrum rückt. Zieldefinition: anspruchsvoll und unaufgeregt.
Schon der Start 2013 war außergewöhnlich: In einem der landesweit kleinsten Theater, dessen Domizil im Stockwerk über der Stadtbücherei etwa 100 Plätze bietet, ausgerechnet mit Goethes „Faust“ zu beginnen, noch dazu verdichtet auf drei Figuren, erfordert Chuzpe. Noch riskanter: Es folgte gleich im ersten Jahr eine Uraufführung, „Schwäne des Kapitalismus“ von Matthias Naumann. Staatsmanns Regie veralbert diesen systemkritischen Text nicht – wie zuvor noch eine Werkstattaufführung bei den Autorentheatertagen am DT. In Rottweil geht es anders: so unschrill wie nötig und so schillernd wie möglich. Eine Rehabilitation.
Mit diesem Anspruch ging es weiter. „Always crashing in the same car – Theater der Seele“ von 2016 zum Beispiel, eine wahre Fallstudie aus der Psychotherapie. Die Analyse einer jungen Frau berührt in Staatsmanns Regie aber auch existenzielle Menschheitsfragen zwischen griechischer Antike und Stalingrad. Karg, beklemmend inszeniert. Im Grunde, so die These Staatsmanns, der auch Heiner Müllers „Theater des Unbewussten“ erforscht hat, „ist jede Psychoanalyse ein Riesendrama“.
Staatsmann und Schültke schaffen es, trotz knapper Ressourcen pro Spielzeit und mit einem Ensemble-Pool von etwa zwanzig Spielern sechs Produktionen zu stemmen, auch Kinder- und Jugendstücke (mit jährlich 8000 Besuchern) und ein Sommertheater draußen. Alles in allem: 20 000 Zuschauer pro Saison.
Wobei die Sommerstücke vor grandioser Landschaftskulisse am Bockshof – der Blick von der Stadtmauer ins Neckartal ist spektakulär – einen eigenen Reiz entfalten.
Aktuell feierte ein selten gespielter Sturm-und-Drang-Text Premiere: „Der Hofmeister“ von 1774, in dem Jakob Michael Reinhold Lenz seine grausamen Erfahrungen als abhängiger Privatlehrer am Hofe verarbeitet. Bettina Schültke hat dramaturgisch kluge Pufferzonen ins Heute angelegt, mit Heiner Müller („Alles wird Ufer wartet auf das Meer“) und mit Teilen der Brecht-Fassung. Staatsmann inszeniert zeitgetreu und zielt doch bis in die Gegenwart. Komplex geschichtet, aber stringent erzählt er eine Tragikomödie über Unterdrückung, Widerstand und Anpassung. Zwischenspiele auf einer Parallelbühne lassen Textmotive im Jetzt nachklingen. So gelingt ein szenischer Atemrhythmus zwischen Hofmeister-Ära und World-Wide-Web-Gegenwart, zwischen Klassik und Trance-Pop, ein Zurück- und Vorausdenken über Freiheit. Die Menschen der Region haben ein Gespür für Theater, die Rottweiler „Fasnet“ prunkt mit sinnenfroh-frechen Umzügen. Noch mehr Touristen, heißt die Devise. Die Bürger entschieden sich deshalb auch für den Bau einer 606 Meter langen Fußgänger-Hängebrücke übers Neckartal. Und der anfangs umstrittene, dann doch abgesegnete 246 Meter hohe Testturm für Aufzüge von Thyssen-Krupp mit der bundesweit höchsten öffentlichen Besucherplattform ist schon fast fertig und ragt unübersehbar in den Himmel. In der „Hofmeister“-Inszenierung wird denn auch ein Video eingeblendet, in dem eine versprengte Figur der Lenz-Zeit hoch oben vom Testturm nachdenklich in die Weite blickt.
Theater als Zeitreise ins Unbekannte: Staatsmann und Schültke, die viel mit Dimiter Gotscheff gearbeitet haben, werden die kommende Spielzeit, in der das Zimmertheater Rottweil fünfzig wird, erneut mit einem kollektiven Wagnis beginnen, einem Projekt über Rechtspopulismus. Der Titel verkehrt ein Thomas-Mann-Zitat aus dunkler Zeit (1934) ins Gegenteil: „Wenn der Kahn nach links kippt, setze ich mich nach rechts“. Diese Demokratie-Collage, in der Politiker-Biografien verwoben werden, soll in „gefährdete Zonen“ führen. Dorthin, wo der Ausstieg aus europäischen Grundwerten längst vollzogen ist. //