Theater der Zeit

Erschütterte Ordnung

Das Modell Antigone

von Hans-Thies Lehmann

Erschienen in: Recherchen 12: Das Politische Schreiben – Essays zu Theatertexten (10/2012)

Louis Gernet hat die historisch rasch entstehende und wieder vergehende Form der Tragödie mit der Entfaltung des Rechtsdenkens im Athen des 5. Jahrhunderts korreliert. Ich folge hier der Auffassung, daß die matière véritable der Tragödie in der Tat das Recht ist, also jene Dimension der Polis, die als entscheidend für Demokratie als politisches Prinzip gelten kann. Es war weithin der politische Sinn, der Polis-Sinn des tragischen Diskurses, die Widersprüche, Ambivalenzen und Inkohärenzen des sich entfaltenden Rechtsdenkens ins Bewußtsein zu bringen. Allerdings kann dieser Gesichtspunkt nicht jene – wesentlich hegelsche – Lektüretradition rechtfertigen, die in der Tragödie im wesentlichen die Illustration eines begrifflichen und begrifflich auflösbaren Widerspruchs rechtlicher, politischer, »sittlicher« Art erblickten. Auf einer ersten Ebene kollidieren in Antigone tatsächlich zwei Prioritäten: Staatsräson, die auch über unbestattete Leichen geht, hier; Pietät und Familienliebe (Philia), die Selbsterhaltung und staatliche Verordnung hintansetzt. Antigone und Kreon übernehmen als hegelsches »Pathos« die jeweilige Priorität und verletzen das jeweils entgegenstehende Recht, dem sie auch Tribut zollen sollten. Kreon unterdrückt die Rechte der Philia, Antigone setzt sich über öffentliches Dekret hinweg. Diese Spannung und Spaltung, vor allem aber die letzthinnige Einheit und Harmonie des Sittlichen – jedenfalls für den Zuschauer, das betrachtende Bewußtsein – machte für Hegel...

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