4. Der 0. Januar. Maß für Maß und die doppelte Buchhaltung
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Das Reale der Perspektive – Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur (07/2013)
Im Großauftritt des fünften Aktes kulminieren die verschiedenen Diskurse, die Shakespeare in seiner Komödie mittels des seinerseits gespaltenen Scharnierbegriffs des Maßes beständig übereinanderlegt und aufeinander abbildet. Er ist darum auch ein herausragendes Beispiel für die spezielle Version der Falte im elisabethanischen Theater. Erstens geht in dieser Schlussszene, wie bei einer mathematischen Gleichung oder auch einer physikalischen Statikberechnung, das Kalkül Vincentios vollständig auf. Zweitens erscheint der gesamte Akt als Selbstfeier einer spezifischen, vom Herzog installierten Überwältigungsästhetik, die den absolutistischen Herrscher zentralperspektivisch in Szene setzt und insofern die Möglichkeiten der neu entstehenden paradigmatischen Bühnenform auslotet. Drittens handelt es sich um eine öffentliche Gerichtsverhandlung, bei der Vincentio als oberster Richter fungiert und am Schluss großzügig Gnade walten lässt. Darin lässt sich die Szene viertens religiös aufladen: Sie wirkt auch wie eine (parodistische) Version des Jüngsten Gerichts, bei dem der Herzog die Funktion des Messias übernimmt, der Schuld und Unschuld wiegt und die Welt ins Gleichgewicht bringt. Parodistisch ist dieses Jüngste Gericht darum, weil Shakespeare die Messiasfigur mit ihrem radikalen Gegenüber zusammenfallen lässt: Man kann den Herzog auch als die Verkörperung des Teufels und des Anti-Christen verstehen, der einen perfiden Plan ausheckt und das Regime in dem Moment übernimmt, als sich bis auf seinen...