Vom Bildbarock zum Wortbarock
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Das Reale der Perspektive – Der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur (07/2013)
Herbert Cysarz hat 1924 eine Unterscheidung zwischen »Wortbarock« und »Bildbarock« getroffen, die in der Forschung zum 17. Jahrhundert vielfach aufgegriffen worden ist.1 Auch in unsere Zusammenhänge lässt sich Cysarz’ Bestimmung eintragen: Bereits das 16. Jahrhundert kennt, als spiegelbildliches Gegenüber zu dem autonomen, geflügelten Auge, das emblematisch für die visuelle Ausprägung des Barock stehen kann, die Darstellung einer abgetrennten, umherwandernden oder fliegenden Zunge, die buchstäblich »geflügelte Worte« durch die Lüfte trägt. Meist zeigt sie sich im Umfeld moralischer Fragestellungen und Klugheitslehren.2 Im Prolog zu Shakespeares zweitem Teil von »Henry IV« etwa tritt die Allegorie des Gerüchtes (»The Rumour«) in Gestalt eines ganz mit Zungen bedeckten Körpers auf.3 In Gryphius’ Trauerspiel »Leo Armenius« folgt auf den ersten Akt ein berühmter Reyen über die »Macht der Zunge«, in dem diese als die eigentliche Gewalt über Leben und Tod des Menschen gezeichnet wird.4 In Baltasar Graciáns satirischem Roman »El criticón« (1651-1657) gibt es sogar eine Szene, in der ein Lehrer mit seinem Schüler einen allegorischen »Jahrmarckt der Welt« besucht, auf dem diverse Zungen als belebte Partialobjekte verkauft werden.5 Und 1654 weiß Friedrich von Logaus Sinngedicht »Außtritt der Zunge«:
DIe Zunge wohnt mit Fleiß im weissen Bein=Gehäge
Dann diß ist ihre Gräntz/ in der sie...