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Erschienen in: Letzter Vorhang (05/2017)
Vor zehn Jahren, über Nacht, hatte sich in der Stirnmitte eine Kerbe gebildet. Inzwischen konnte ich da ein Streichholz einklemmen. Ohne diese Falte sähe ich wesentlich jünger aus. An sich hatte ich das Gesicht eines Vierzigjährigen. Glatte Haut, wenn ich wie in diesem Moment mit dem Nassrasierer darüber hinwegfuhr. Ich hatte mich noch nie geschnitten.
Mutter zufolge war es ein weiches Gesicht. Sie hatte mit diesem Urteil regelmäßig und vorzugsweise in Gegenwart von Freunden und Bekannten ihre Zufriedenheit darüber zum Ausdruck gebracht, dass ich nicht nach ihr kam. Ein weiches Gesicht, das den wahren Charakter verschleiere. Sie war diskret genug gewesen, diesen Zusatz nur mir gegenüber zu machen, und zwar als ich mich erfolgreich geweigert hatte, den sogenannten Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee mit der Waffe in der Hand zu leisten.
Nach ihrem schnellen Krebstod zwei Jahrzehnte später erzählte mir der tiefer als ich erschütterte Lohmann, Vater habe ihr vermutlich in einem romantischen Augenblick den Spitznamen Uta gegeben, weil sie der Uta von Ballenstedt aus dem Naumburger Dom ähnlich sah. Wenn das stimmte, dann war ich zweifellos Utas Sohn, denn, ob mir das nun behagte oder nicht, wirklich jeder, der uns beiden, Mutter und mir, zum ersten Mal gemeinsam begegnete,...