Theater der Zeit

Letzter Vorhang

256 Druckseiten, 22 Beiträge, Ausgabe kaufen

Assoziationen: Michael Schindhelm Volksbühne Berlin

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  • 1

    Auf dem Tisch lag ein Baby. In der Frau, die den Schädel öffnete, erkannte ich beiläufig Mutter. Das Baby gab keinen Ton von sich. Da war nur das kurze Knacken …

  • 2

    Vor zehn Jahren, über Nacht, hatte sich in der Stirnmitte eine Kerbe gebildet. Inzwischen konnte ich da ein Streichholz einklemmen. Ohne diese Falte sähe ich wesentlich jünger aus. An sich …

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  • Letzter Vorhang

    3

    von Michael Schindhelm

    Die Bahn Richtung Friedrichstraße war losgefahren und so rüttelte nun das für unsere Hauptstadt ungewöhnlich gepflegte Regierungsviertel vorbei. In gut zweieinhalb Stunden würde die vierhundertdreiundsechzigste Vorstellung von Einer flog über …

  • 4

    „Hallöchen, Polli“, rief er mir noch fröhlicher zu als gewöhnlich. „Heute jibt’s wat Besonderet, nich wahr?“ Peppi war der Einzige im Haus, der mich Polli nannte, und er hatte auch …

  • 5

    Das Liebknecht entfaltete seit Jahren eine schlichtweg erotische Ausstrahlung. In erster Linie auf Hochschülerinnen. In erster Linie wegen Hartung. Intendant und Regisseur in einer allerdings überragenden Persönlichkeit vereinigend, hatte er …

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  • 6

    Erst im folgenden Jahr, wir wohnten bereits Monate zusammen in der Solinger und ich begann mir Vorstellungen über unser Verhältnis zu machen, kühne Vorstellungen über ein alle Zeiten und deren …

  • 7

    Durch die verträumte Schattenlandschaft des Baus drang Carmen Meisslers an Hildegard Knef erinnernder Alt und machte auffällig beschwingt darauf aufmerksam, dass in einer Stunde die Vorstellung beginnen würde. Mit kalten …

  • 8

    Man kann Putbus auf der Insel Rügen für ein nach ostdeutschen Maßstäben elegantes Städtchen halten. Rund um einen Obelisken stehen dreistöckige, kreideweiß renovierte Villen, eine Kastanienallee führt durch einen stattlichen …

  • 9

    Das iPhone juckte im Handballen wie ein Mückenstich. Eine nunmehr unerträgliche Erwartung. Würde sie mir vor Beginn der Vorstellung endlich eine Nachricht senden? Laut Carmen Meissler blieb noch eine Viertelstunde. …

  • 10

    Für Lohmann war Kuckucksnest eine Allegorie auf die entartete Diktatur des Proletariats gewesen. An sich hielt er sich für einen Kommunisten und trauerte auf seine introvertierte Art. In den Neunzigern …

  • 11

    Im Abgang stieß ich hinter der Bühne mit Leitterfeldt zusammen. Er gehörte zu den Leuten, die ich von Anfang an nicht gemocht hatte. Ein verlässlicher Instinkt für Leute, die intrigant …

  • 12

    Im schwächer gewordenen Junilicht blitzte das iPhone zwischen den liegen gebliebenen Papieren auf wie ein Tischfeuerzeug. Es war Lohmann. Die erste Nachricht seit Monaten. „Los Häuptling, du schaffst das!“, stand …

  • 13

    Sobanski hockte nach wie vor auf dem Stuhl neben der Tablettablage. Er schien sich in den letzten zwei Stunden nicht bewegt zu haben. Die spindeldürren, käsigen Hände noch immer platt …

  • 14

    Jähe Leere kehrte in mich zurück, als ich ihre Maronenlocken am Kiefer spürte. Wie ein Heilsbringer kreiste der Handteller ihrer Rechten auf meinem T-Shirt. Noch immer ungläubig, linste ich probeweise …

  • 15

    Ein trockener Knall und ich war zurück in dem Stahlrohrsessel, der zur Grundausstattung meiner Erinnerung an sie gehörte. Hier hatte es angefangen. Das Glück, das Elend. Meine Linke hatte die …

  • 16

    Ein Klingeln. Hastig griff ich nach dem iPhone. Tot. Ich hatte den Hausapparat vergessen. Verdrängt. Die Möglichkeit eines internen Anrufs. Anrufe erwartete ich nur noch von außen. Rudis Stimme klang …

  • 17

    Einige von den Leuten dort unten kannte ich seit mehr als fünfzehn Jahren. Jürgen zum Beispiel, Lissy. Bündel war hier schon als Sonderschüler ein und aus gegangen. Sie hatten bei …

  • 18

    Candice holte die Erinnerung zurück. Es begann auf Rügen. Im Mai vor zwei Jahren. Nach den Aufführungen des Letzten Bandes stürmten wir in die heimeligen vier Wände des Panteleit, um …

  • 19

    Bekanntlich zählte es zu den Verdiensten des Liebknecht, der von Theaterleuten seit Jahren in Interviews und Feuilleton-artikeln beschworenen Sehnsucht nach dem wirklichen Leben und nach der Vermischung von Fiktion und …

  • 20

    „Polli, da is wer für dich. Obermeester … Wie war noch der Name …? … Sobke. Ja. Ob de ma herkommn könnst.“ Peppi. Er klang nach Schwierigkeiten. Oder einem Fehlalarm …

  • 21

    Auf dem Weg durch die verwinkelten Gänge des Hinterhauses kam ich allmählich in Fahrt. Gesichter huschten vorüber, unscharf und eigentlich zu nah, als hätte ich ein Vergrößerungsglas vor den Augen. …

  • 22

    Mir gelang es, allen und allem aus dem Weg zu gehen. Abschiedsfeste und Erinnerungskonferenzen waren meine Sache nicht, ganz gleich, ob das Fernsehen, ob Sauer samt seiner Partei oder der …