Letzter Vorhang
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Assoziationen: Michael Schindhelm Volksbühne Berlin
1
Auf dem Tisch lag ein Baby. In der Frau, die den Schädel öffnete, erkannte ich beiläufig Mutter. Das Baby gab keinen Ton von sich. Da war nur das kurze Knacken …
2
Vor zehn Jahren, über Nacht, hatte sich in der Stirnmitte eine Kerbe gebildet. Inzwischen konnte ich da ein Streichholz einklemmen. Ohne diese Falte sähe ich wesentlich jünger aus. An sich …
3
Die Bahn Richtung Friedrichstraße war losgefahren und so rüttelte nun das für unsere Hauptstadt ungewöhnlich gepflegte Regierungsviertel vorbei. In gut zweieinhalb Stunden würde die vierhundertdreiundsechzigste Vorstellung von Einer flog über …
4
„Hallöchen, Polli“, rief er mir noch fröhlicher zu als gewöhnlich. „Heute jibt’s wat Besonderet, nich wahr?“ Peppi war der Einzige im Haus, der mich Polli nannte, und er hatte auch …
5
Das Liebknecht entfaltete seit Jahren eine schlichtweg erotische Ausstrahlung. In erster Linie auf Hochschülerinnen. In erster Linie wegen Hartung. Intendant und Regisseur in einer allerdings überragenden Persönlichkeit vereinigend, hatte er …
6
Erst im folgenden Jahr, wir wohnten bereits Monate zusammen in der Solinger und ich begann mir Vorstellungen über unser Verhältnis zu machen, kühne Vorstellungen über ein alle Zeiten und deren …
7
Durch die verträumte Schattenlandschaft des Baus drang Carmen Meisslers an Hildegard Knef erinnernder Alt und machte auffällig beschwingt darauf aufmerksam, dass in einer Stunde die Vorstellung beginnen würde. Mit kalten …
8
Man kann Putbus auf der Insel Rügen für ein nach ostdeutschen Maßstäben elegantes Städtchen halten. Rund um einen Obelisken stehen dreistöckige, kreideweiß renovierte Villen, eine Kastanienallee führt durch einen stattlichen …
9
Das iPhone juckte im Handballen wie ein Mückenstich. Eine nunmehr unerträgliche Erwartung. Würde sie mir vor Beginn der Vorstellung endlich eine Nachricht senden? Laut Carmen Meissler blieb noch eine Viertelstunde. …
10
Für Lohmann war Kuckucksnest eine Allegorie auf die entartete Diktatur des Proletariats gewesen. An sich hielt er sich für einen Kommunisten und trauerte auf seine introvertierte Art. In den Neunzigern …
11
Im Abgang stieß ich hinter der Bühne mit Leitterfeldt zusammen. Er gehörte zu den Leuten, die ich von Anfang an nicht gemocht hatte. Ein verlässlicher Instinkt für Leute, die intrigant …
12
Im schwächer gewordenen Junilicht blitzte das iPhone zwischen den liegen gebliebenen Papieren auf wie ein Tischfeuerzeug. Es war Lohmann. Die erste Nachricht seit Monaten. „Los Häuptling, du schaffst das!“, stand …
13
Sobanski hockte nach wie vor auf dem Stuhl neben der Tablettablage. Er schien sich in den letzten zwei Stunden nicht bewegt zu haben. Die spindeldürren, käsigen Hände noch immer platt …
14
Jähe Leere kehrte in mich zurück, als ich ihre Maronenlocken am Kiefer spürte. Wie ein Heilsbringer kreiste der Handteller ihrer Rechten auf meinem T-Shirt. Noch immer ungläubig, linste ich probeweise …
15
Ein trockener Knall und ich war zurück in dem Stahlrohrsessel, der zur Grundausstattung meiner Erinnerung an sie gehörte. Hier hatte es angefangen. Das Glück, das Elend. Meine Linke hatte die …
16
Ein Klingeln. Hastig griff ich nach dem iPhone. Tot. Ich hatte den Hausapparat vergessen. Verdrängt. Die Möglichkeit eines internen Anrufs. Anrufe erwartete ich nur noch von außen. Rudis Stimme klang …
17
Einige von den Leuten dort unten kannte ich seit mehr als fünfzehn Jahren. Jürgen zum Beispiel, Lissy. Bündel war hier schon als Sonderschüler ein und aus gegangen. Sie hatten bei …
18
Candice holte die Erinnerung zurück. Es begann auf Rügen. Im Mai vor zwei Jahren. Nach den Aufführungen des Letzten Bandes stürmten wir in die heimeligen vier Wände des Panteleit, um …
19
Bekanntlich zählte es zu den Verdiensten des Liebknecht, der von Theaterleuten seit Jahren in Interviews und Feuilleton-artikeln beschworenen Sehnsucht nach dem wirklichen Leben und nach der Vermischung von Fiktion und …
20
„Polli, da is wer für dich. Obermeester … Wie war noch der Name …? … Sobke. Ja. Ob de ma herkommn könnst.“ Peppi. Er klang nach Schwierigkeiten. Oder einem Fehlalarm …
21
Auf dem Weg durch die verwinkelten Gänge des Hinterhauses kam ich allmählich in Fahrt. Gesichter huschten vorüber, unscharf und eigentlich zu nah, als hätte ich ein Vergrößerungsglas vor den Augen. …
22
Mir gelang es, allen und allem aus dem Weg zu gehen. Abschiedsfeste und Erinnerungskonferenzen waren meine Sache nicht, ganz gleich, ob das Fernsehen, ob Sauer samt seiner Partei oder der …