Theater der Zeit

Editorial

von Jenny Patschovsky

Erschienen in: Re-thinking Objects – Der non-human turn im Zeitgenössischen Zirkus (VOICES III) (06/2022)

Benjamin Richter „TAKTiL“
Benjamin Richter „TAKTiL“Foto: Andrea Salustri

Anzeige

Liebe Leser:innen, 
liebe Künstler:innen,
liebes Publikum,

wir leben in einer extremen Zeit, die uns in vielen Bereichen zeigt, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann und wird. Zwei Jahre Corona liegen hinter uns und sind noch lange nicht verdaut, schon erdrücken uns die Nachrichten eines realen Krieges mitten in Europa. Zugleich zeigt der Klimawandel weltweit immer verheerendere Auswirkungen. Umso dringlicher stellt sich uns die Frage, wie wir leben wollen. Und wie wir jetzt Kunst machen wollen. Wie Kunst an dieser Stelle Verantwortung übernehmen kann, wie sie Reibung erzeugen kann, entlarven und herausfordern kann und vor allem neue Denkweisen ausprobieren kann. Wir finden, Zeitgenössischer Zirkus kann eine solche Kunst sein. Diese aufstrebende Zirkusform, die sich mehr und mehr in Deutschland etabliert, kann etwas beitragen zur Bewältigung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen und kann Wege eröffnen zu einem erdverträglichen Bewusstsein.

Die diesjährige Ausgabe der VOICES befasst sich mit dem so genannten non-human turn im Zeitgenössischen Zirkus. Unter diesem Schlagwort können eine Vielzahl an Strömungen zusammengefasst werden, die das Konzept eint, menschliche und nicht-menschliche Entitäten, Objekte oder Prozesse als gleichwertig anzusehen und ihnen die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken. Im Zeitgenössischen Zirkus wurde diese Denkweise vor allem durch Graham Harmans „Object Oriented Ontology“1 (abgekürzt „OOO“) geprägt und über die Jonglage in die Zirkusszene hineingetragen – als ein Bewusstsein darüber, dass (Jonglage-) Objekte eine eigene agency besitzen, also eine eigene Handlungsfähigkeit, die den:die Jongleur:in in Bewegung bringt. Im Zentrum von „OOO“ steht die Idee, dass Objekte – ob real, fiktiv, natürlich, künstlich, menschlich oder nicht-menschlich - wechselseitig autonom sind. Ähnlich formuliert es auch Karen Barad in ihrem Konzept des Agentiellen Realismus 2: Diesem Ansatz zufolge wird die Handlungsfähigkeit aus ihrer traditionellen humanistischen Bahn herausgelöst und ist nicht mehr mit menschlicher Intentionalität oder Subjektivität gleichzusetzen. Für den Zirkus bedeutet das eine neue Perspektive auf die Rolle des:der Performenden und auf den Umgang mit Objekten und Apparaten. Es bedeutet in der Folge auch, eine neue Haltung gegenüber der (Um-) Welt einzunehmen. In dem Artikel „Footnotes on Mastery“ aus der in Zirkuskreisen gefeierten Dialogsammlung „Thinking Through Circus“3 fordert Vincent Focquet einen „demütigen Zirkus“ und meint damit einen Zirkus, der der Welt um sich herum Respekt und Achtsamkeit entgegenbringt und sich auf eine neue Art und Weise zu ihr in Beziehung setzt. Die Zirkuspraxis als eine relationale Kunstform, in der es immer um Beziehungen geht (zu Apparat, Objekt, Partner:in, eigenem Körper), bietet einen besonderen Raum, um sich auf die Suche nach zukünftigen Koexistenzen zu begeben. Damit erscheint der Perspektivwechsel im non-human turn, der sich in vielen künstlerischen Positionen des Zirkus von heute widerspiegelt, als – Hoffnung bringende – Folge auf den menschlichen Raubbau an der natürlichen Umwelt im Anthropozän. Denn das wachsende Bewusstsein für diesen Raubbau zwingt zu einem Überdenken der erkenntnistheoretischen und ethischen Subjekt-Objekt-Modelle und des eindimensionalen, anthropozentrisch orientierten Handlungskonzepts.

Unter dem Titel „Re-Thinking Objects“ versammelt die diesjährige VOICES Ausgabe künstlerische Positionen zum und Perspektiven auf den oben beschriebenen non-human turn im Zeitgenössischen Zirkus. In dem Artikel „(More than) Human? Inszenierungsstrategien im Zeitgenössischen Zirkus“ gibt Franziska Trapp einen kurzen Überblick über verschiedene Herangehensweisen an das Inszenieren von Nicht-Menschlichem. Das Gespräch zwischen Saar Rombout, Darragh McLoughlin, Benjamin Richter und Jenny Patschovsky beleuchtet drei verschiedene Haltungen zu (Zirkus-)Objekten und drei unterschiedliche daraus resultierende Präsentationsformen. Marie-Andrée Robitaille untersucht Posthumanismus als Zirkus-Praxis anhand eigener künstlerischer und wissenschaftlicher Arbeiten und bezieht diese auf unsere offenen gesellschaftlichen Fragen. In dem Interview mit dem Kunstprofessor Tillmann Damrau geht es um den Präsenzbegriff und das ästhetische Erleben von Präsenz als eine neue Rhetorik für den Zeitgenössischen Zirkus. Der Artikel von Tim Behren ordnet ausgewählte Festivalstücke in Konzepte des non-human turn ein, die Zustände, Architekturen und Raumerfahrungen betreffen.

Auch die 3. Ausgabe der VOICES will zum Denken und Diskutieren anregen, indem sie aktuelle Diskurse im Zirkus von heute aufnimmt und zugänglich macht. Herausgegeben vom CircusDanceFestival, in künstlerischer Leitung von Tim Behren, erfüllt sie das Anliegen, Wissensaustausch und diskursive Reflexion zu fördern und unterschiedliche Wissensfelder zu verknüpfen. Dieses Jahr erscheint das VOICES Magazin als Vorschau: Der Verlag Theater der Zeit widmet - in Kooperation mit dem CircusDanceFestival - sein jährlich erscheinendes Arbeitsbuch diesmal einer aktuellen Bestandsaufnahme des Zeitgenössischen Zirkus. Das Buch mit dem Titel „Circus in Flux. Zeitgenössischer Zirkus“ beleuchtet verschiedene Bereiche, künstlerische Positionen und Möglichkeitsräume von Zeitgenössischem Zirkus mit Fokus auf Mitteleuropa und ist ein Meilenstein zur Sichtbarmachung dieser Kunstform. Das VOICES Magazin wird in dem Arbeitsbuch als eingeheftete Sondereinlage inkludiert sein und darüber hinaus als limitierte Vorschau im Rahmen des CircusDanceFestivals erscheinen. Wir wünschen eine inspirierende Lektüre und hoffen, dass sie zum Denken und Diskutieren anregt. Auf einen Zirkus der Handlungsfähigkeit, der Gleichheit und der Vielfalt!

Jenny Patschovsky
Köln im April 2022

 

1 Harman, Graham: Object-Oriented Ontology. A new Theory of everything. London 2018. 

2 Barad, Karen: „Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter.” In: Signs. Journal of Women in Culture and Society. Band 28, Nr. 3. Chicago 2003.

3 Lievens, Bauke / Ketels, Quintijn / Kann, Sebastian / Focquet, Vincent (Hg): Thinking Through Circus. Gent 2020.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz
Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York