Vom Standort eines Kritikers
von Hans Stephan
Erschienen in: Theater der Zeit: Theaterwissenschaft – Wissenschaft vom Leben (01/1948)
Assoziationen: Kritiken
Der Kampf zwischen dem produktiven Künstler und dem Kritiker wird bald seinen Höhepunkt erreicht haben, denn bereits haben die Witzblätter den Streit mit der Schärfe der Satire bedacht. Rund 15 Jahre Tätigkeit als Kritiker und zugleich als ausübender Künstler veranlassen mich, einige Sätze zum Problem zu sagen.
Wenn im Augenblick der ausübende Künstler in der Fehde der moralisch Überlegenere ist, so deshalb, weil in Zeiten des Versuchs, aus einem Chaos Werte zu bergen und Neues zu bauen, immer der produktiv Schaffende mehr im Recht ist als der Kritiker, vor allem, da der Kritiker keine schöpferische Gemeinschaft darstellt, sondern ihr gegenüber eine umstrittene und manchmal sogar fragwürdige Einzelperson ist.
Das Problem „Kritiker“ entsteht in erster Linie aus einer sowohl persönlichen als fachlichen Unzulänglichkeit. Kritiker kann nur der sein, der ein gediegenes Rüstzeug in eine gehörige Ordnung gebracht und einen festen Standpunkt hat, von dem er urteilt, der eine (Welt-) Anschauung von den Dingen hat (früher sagte man, ein philosophisches System), dazu auch eine feste politische Meinung. Es können dabei verschiedene Kritiker verschiedener Meinung sein; jeder von ihnen aber muß seinen Standpunkt mit seinem vorbildlichen Leben gesichert haben und konsequent vertreten. Die Grundhaltung muß immer erkennbar sein. Nicht also bloßes angereichertes Wissen berechtigt zur Kritik, sondern die gediegene, gereifte innere Haltung, die dazukommen muß.
Wie sieht es in Wahrheit aus? Das schlimmste ist die Haltlosigkeit, um nicht zu sagen Beeinflußbarkeit oder Bestechlichkeit, wobei nicht die materielle Bestechung (auch die kommt vor) gemeint ist, sondern die teils sogar unbewußte, die aus dem ewigen Wackelkontakt der innern Schwäche kommt. Das andre ist die mangelnde Vorkenntnis. Rein angelesene literarische Kenntnisse genügen nicht, sondern für jede Kunstgattung ist die Kenntnis ihrer handwerklichen Gesetze erforderlich. Der Theaterkritiker muß die dramaturgischen Wege von Aristoteles bis Otto Ludwig und zur Moderne kennen, der Musikkritiker die Aufbau- und Formgesetze, die Entwicklung der musikalischen Bezüge. Erst dann wird die Kritik der Subjektivität persönlichen Geschmacks enthoben, und sie wird gerecht sein. Sie wird auch vorsichtig werden. Nicht im Sinne einer Verbots-Vorsicht der verflachten Kunstbetrachtung des Dritten Reichs, sondern im Sinne von Respekt und Ehrfurcht vor dem Kunstwerk.
Es wird dann die schillernde, eitle, sich selbst bespiegelnde Kritik aufhören, die ihre innere Haltlosigkeit, ihr eigentliches Nichtwissen hinter der Maske gleißender Sentenzen, Phrasen, Bonmots verbirgt, die in ihrer Schnoddrigkeit den Künstler am meisten verletzen.
Schlimm sind die Verhältnisse in der Provinz. Hier, wo heute die Kunst in vielen Fällen mehr Anstrengungen macht als in den früheren Metropolen, müßte eine besondere Förderung durch die Kritik eintreten. Der auftretende Typus des Kritikers ist aber hier meist der Nebenberufler, der von der Warte eines beamteten Berufs aus gern Freikarten in Anspruch nimmt und auch mitredet, vom Gesangverein bis zum Fußballklub eine geachtete Persönlichkeit. Ob Jurist, Mediziner, Techniker, Schullehrer (diese meistens), gleichgültig! Aber sie reden mit, weil sie ein bißchen Klavier spielen können und außer Goethe auch Strindberg und Maupassant gelesen haben. Das übrige bekommt man ja in der Tageszeitung am Rande mit!
Nur aus den oben geschilderten Unzulänglichkeiten sind in Großstadt und Provinz die oft geradezu unglaublichen Fehlurteile möglich. Dazu kommt oft die Sucht, die vergangenen zwölf Jahre auszuradieren, als ob die Weltgeschichte nicht weitergelaufen wäre, und bei einem Radikalismus krampfhaft wieder einzusetzen, der schon einmal sich überholt hatte.
Ja, es kommen Gedanken, ob Kritik in der bisher geübten Form überhaupt noch lebensfähig sei. Zweck hat sie nur, wenn ein Kunstwerk nach der Regel betrachtet und beurteilt werden kann, nach der Maßgabe und dem Willen, erst einmal das Positive einer Schöpfung oder künstlerischen Interpretation hervorzuheben und dann das Negative.
Die Kritiker werden einwenden, daß sie dazu keinen Raum hätten. Das stimmt in den weitaus meisten Fällen. Wenn eine Zeitung für ein Kunstwerk keinen Raum hat (Papierbeschränkung einbezogen; es war schon vorher für Sport mehr Raum als für Kultur!), soll sie die Kritik lassen. Raummangel zwingt zur Abschleifung, zu gleißenden Sentenzen und führt oft zu Mißverständnissen. Auch die bloße Berichterstattung ist zwecklos; da genügt die Anzeige des Kunstinstituts vollauf. Die Tageszeitung ist also in den wenigsten Fällen geeignet, Kritiken aufzunehmen; denn nur um dem Publikum einen raffinierten Appetitshappen vorzuwerfen, ist sie nicht da. Die Kritik soll im Gegenteil selbst ein Kunstwerk sein. Das wäre der rechte Entgelt für die Leistung des Künstlers, die nie so schlecht sein kann, daß nicht mindestens ihr Handwerk noch geachtet werden muß!!
Im wesentlichen gehört die Kritik in die Fachpresse. Wozu diese Auseinandersetzungen in einer Öffentlichkeit, die letzten Endes doch ihr Urteil in den meisten Fällen völlig unabhängig von der Meinung der Presse bildet, oft genug sogar im Gegensatz zu ihr. Zeitungsskandale sind eine eigenartige Propaganda. Es muß immer auf beiden Seiten die Würde gewahrt werden. In jedem Fall ist der Künstler der Angegriffene oder muß sich so fühlen. Der Kritiker verschanzt sich hinter seiner Feder und eventuell hinter der Redaktion; der Künstler aber wird nach der Kritik abgeschätzt. Je mehr er in die Provinz kommt, wird er bis in sein Privatleben abgeschätzt und behandelt – vom Publikum! Der wahre Kritiker macht sich immer klar, welche Folgen für den Künstler eine inhaltsschwere Kritik hat. Oft genug werden Kritiken geschrieben mit einem unverantwortlichen Leichtsinn, um nicht zu sagen Böswilligkeit, noch dazu von Interessentengruppen geschürt. Als ich anfing zu schreiben, habe ich künstlerische Darbietungen, vor allem des Theaters, der Öffentlichkeit bis zur Schminke analysiert und beurteilt. Wozu das in der Tagespresse? Nur in der gediegenen Fachpresse können sich die Meinungen treffen, austauschen, ehrlich bekämpfen zum fruchtbaren Ausgleich. Es sollte endlich mit der verzopften Übernahme aus dem 19. Jahrhundert nach Muster Freytagscher Journalisten aufgehört und der Kritik der Platz angewiesen werden, der ihr wirklich gehört. Doppelt müssen natürlich in der Fachpresse die Anforderungen sein, die an einen Kritiker gestellt werden. Wenn in Zukunft eine Besserung des Nachwuchses eintreten soll, dann muß die klare und nachdrückliche Forderung erhoben werden, daß an den fachlichen Hochschulen und Universitäten für diese Berufsgattung Ausbildungskörper und Lehrpläne zur Verfügung stehen. Eine besondere Reklame soll für diesen Beruf nicht gemacht werden; es werden nur wenige, aber gute Vertreter gebraucht, die sich dann aber auch Geltung verschaffen können. Bei der Ausbildung ist es unerläßlich, daß der Theorie die Praxis, nämlich Praktikantenzeit, zugesellt ist. Kritiker darf einer nur sein, der aus größeren Erkenntnissen über das Handwerkliche des Künstlerberufs hinausgewachsen ist. Jeder andere bleibe davon, denn er ist vermessen!
Der Künstler aber enthalte sich der Überempfindlichkeit und vermeide es, den Kritiker für seine Interessen einzuspannen, auf deutsch zu beeinflussen (auch das geschieht in vielen Fällen)! Der Künstlerberuf hat eine Atmosphäre der Intrige um sich. Es ist betrüblich zu sehen, mit welcher brutalen Ellbogenfreiheit selbst Prominente ihre Mitkünstler stoßen, obwohl sie mehr Weisheit und Würde besitzen sollten. Vor allem der Nachwuchs ist dabei benachteiligt und der weniger Geschäftstüchtige. Möchte gerade im Künstlerstand auch wieder der Gedanke wach werden, daß die Kunst im Idealen leben muß und die gewisse weiche Anmut des Künstlers, die ihn vom „Bürger“ unterscheidet, nicht nur Tarnung intriganter Fähigkeiten sein darf. Daß der Alltag schwer ist, betrifft alle Menschen gleichermaßen, berechtigt aber im Künstlerberuf niemand, „Schwarzhändler der Kunst“ zu werden. Wenn von Förderung des Nachwuchses gesprochen wird, so ist dies eine sehr ernst zu nehmende Angelegenheit. Dem Kritiker ohne besonderes soziales Gewissen wird sie unverständlich bleiben. Ebenso muß der Kritiker der getreue Mittler zwischen der künstlerischen Leistung und dem Publikum, also Volksbildner, sein. Neues wird immer vorsichtig und zögernd aufgenommen. Wir müssen zur Vermittlung greifen, zur besonderen Erklärung der Kunstwerke. Dem Zeitungsschreiber in der Tagespresse käme deshalb weniger die Fachkritik zu als die Kunstbetrachtung im Sinne einer volksbildenden Aufgabe, das Näherbringen der Kunstwerke an die Allgemeinheit und eine Erziehung zum Kunstwerk, zu geschmacklich wertvollen Kunstgattungen. Die Fachkritik haben wir bereits in die Fachpresse verwiesen. Diese hat heute nur einen kleinen und zum Teil sogar konjunkturbedingten, ja durch Zonen begrenzten Rahmen, aber darüber wird sie wohl hinauswachsen.
Ist nun mit Zukunftswünschen und ungezeichneten Wechseln dem Streit, der gegenwärtig brennt, Einhalt geboten? Nein! Dessen bin ich mir bewußt! Aber vielleicht versuchen einmal die Beteiligten sich zu einer „Kunstgemeinschaft“ zusammenzuschließen und gemeinsam den Weg zu beraten. Bis dahin aber mögliche Überwindung persönlicher und fachlicher Schwäche durch schärfste Selbstkritik beider Teile und – mehr Berufswürde!!