2 Bewusstsein für ein relationales Raumkonzept und performatives Situationsverständnis
von Julia Kiesler
Erschienen in: Recherchen 149: Der performative Umgang mit dem Text – Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater (09/2019)
Wie im Kapitel „Konzeptionelle und inszenatorische Aspekte dreier Probenprozesse“ dargelegt, arbeiten die in dieser Studie untersuchten Probenprozesse mit verschiedenen und wechselnden Situations- und Raumkonzepten. Dementsprechend sollte sich auch die Schauspielausbildung mit unterschiedlichen Situations- und Raumkonzepten beschäftigen. Die Studierenden müssen dazu befähigt werden, innerhalb performativer Situationsanordnungen agieren zu können, die sich von repräsentativen Situations- und Raumkonzepten einer realistischen Spielpraxis unterscheiden.
Performative Situationsanordnungen betonen die Ko-Präsenz zwischen Akteur/-innen und Zuschauer/-innen. Der Raum dieser Situation steht nicht repräsentativ als Symbol für eine andere Welt, sondern verbleibt zunächst im Kontinuum des Realen. Aus dieser aktuellen Kommunikationssituation kann schließlich eine Situation des gemeinsamen Erlebens entstehen, die einen „relationalen“ oder „postdramatischen“ Raum erst konstituiert. Sie generiert zu einer performativen Situation, indem sie soziale und assoziative Wirklichkeiten, Erfahrungsräume oder auch poetische Situationen entstehen lässt. Charakterisiert ist eine performative Situation durch Offenheit und Emergenz, d. h. Unvorhersehbarkeit. Von den Schauspieler/-innen bzw. Performer/-innen erfordert die Konstitution einer solchen Situation die Bereitschaft, sich einem unvorhersehbaren Erlebnis auszusetzen und sich dem Text und den Zuschauer/-innen innerhalb einer betont aktuellen Kommunikationssituation zur Verfügung zu stellen.
Demnach gilt es, den Studierenden innerhalb einer zeitgenössischen Schauspielausbildung ein relationales Raumverständnis nahezubringen, nach dem Räume nicht als etwas natürlich Gegebenes begriffen werden, sondern durch...