Keine Bühne ohne Szenografie. Einleitung
von Birgit Wiens
Erschienen in: Bühne – Perspektiven der Szenografie und Performance Design Studies (07/2025)

Dieses Buch beginnt mit der Erinnerung an eine eindrückliche, heute bereits merkwürdig fern erscheinende Situation im Frühjahr 2020, von der auch das Foto auf dem Einband erzählt: Als die Theater, Museen und überhaupt alle Veranstaltungsorte damals pandemiebedingt plötzlich schließen mussten, war eines morgens auf dem Asphalt einer Straße in Berlin-Mitte das Wort „Bühne“ zu lesen. Wer immer es in großen weißen Lettern auf den Boden gesprüht hatte: Es mutete unter den Umständen an wie eine Behauptung und ein trotziges Insistieren auf etwas, das auf unabsehbare Zeit verloren schien, und – wenn man es so lesen wollte – wie eine Frage nach der gegenwärtigen und zukünftigen Gestaltung von Bühnen, nach ihrer Verortung, Funktion sowie nach ihrer kulturellen und sozialen Relevanz. Im Vorübergehen trat einem die Schrift gleichsam entgegen und machte aus dem Straßenabschnitt ein szenografiertes Setting, eine Bühne (jedenfalls als Behauptung) und das ‚Hier und Jetzt‘ einer Situation, die – sofern man sich als Zufallspublikum darauf einließ – ein Nachdenken über die Frage provozierte: Was eigentlich ist eine Bühne?
„Umgangssprachlich ist ‚Bühne‘ eine der wohl am häufigsten verwendeten Theatermetaphern“, heißt es in einer Publikation aus dem Jahr 2014, die sich theater-, kunst- und medienwissenschaftlich der Frage nach Bühnen, Raumpraktiken und -wahrnehmungen widmet (Eke/Haß/Kaldrack 2014, 9); gleichwohl bleibt der Begriff, der „sich in seiner metaphorischen Qualität ebenso auflöst wie zeigt“ (Schellmann 2018, 51), erst einmal unscharf. Wir kennen und erleben Bühnen als Auftrittsorte aller aufführenden Künste und als Orte sozialer Begegnung – und auch jenseits von Theatern, Konzertsälen und ausgewiesenen Veranstaltungsräumen kommt heute ein breiter Kultur- und Kreativsektor ohne Bühnen nicht aus. Gemäß ihrer Funktion sind Bühnen, allgemein gesprochen, temporär oder dauerhaft etablierte Spielorte aller aufführenden Künste sowie unterschiedlichster Veranstaltungsformate. Gebaute Bühnen bilden, gemeinsam mit dem Zuschauerraum, das ‚Kernstück‘ von Theaterarchitektur (europäischer Prägung) – sei es in Form eines Guckkastens oder etwa als offen-variable Raumbühne. Der Blick in die Gegenwartskünste, in die Historie und in unterschiedliche Theaterkulturen zeigt zudem, dass es nicht notwendig gebaute Bühnen braucht, damit Aufführungsereignisse stattfinden. Um einen Ort in eine Bühne zu verwandeln, bedarf es – wie der
Performance design/scenography today is often presented through live and immersive experiences, where all senses can be involved and the audience members take on an active role. Thus, it can be seen as an art form that goes beyond the visual, into an experiential and sensorial realm with a focus on interdisciplinary collaboration, giving creative expression to new ideas and experiments. (…) As such, it can occur in an unbounded range of environments: from the traditional theatre stages, through experimental performance venues, to any type of found sites and spaces – from urban to rural, industrial to landscape, interior or exterior, physical, virtual, or mixed. A growing amount of creative work comprises a variety of new media and involves various other professions and disciplines – in applied settings, as well as in innovative experimental formats. (…) The present-day practice of scenography is one of the most exciting art forms and creative domains – in the innovative and holistic ways of engaging their audiences, participants, and the public.
Markéta Fantová/Barbora Příhodová/Pavel Drábek: „How do we see performance design/scenography?“ (2023)1
amerikanische Regisseur und Performancetheoretiker Richard Schechner postuliert hat – jedoch mindestens einer Markierung: „(…) this transformation is accomplished by ‚writing on the space’, as the cave art of the Palaeolithic period demonstrates so well. This writing need not be visual, it can be oral as with the Aborigines“ (ders. 1988, 148f.). Bemerkenswert ist, wie Schechner die Bühne bereits in ihren frühesten Formen mit dem Schreiben (oder jedenfalls einem sehr weit gefassten Verständnis dieser Kulturtechnik) verbindet, mit anderen Worten: mit der Szenografie.
Begriffsgeschichtlich hat ‚Szenografie‘ (σκηνογραφια, Kompositum aus skene, Bühnenhintergrund, und graphein, schreiben) ihre Anfänge nachweislich im Theater der griechischen Antike und bezeichnete dort in erster, ursprünglicher Bedeutung eine Praxis des Bemalens, Gestaltens der Bühnenhausfront im Gesamtensemble des antiken theatron.2 Im aktuellen Sprachgebrauch wird der Begriff verwendet als Name einer „Disziplin, die sich explizit dem Raum und seiner Inszenierung widmet“ (Barthelmes 2011, 18). Obschon sie eng mit der europäischen Theatergeschichte liiert ist und etymologisch aus dieser hervorging, bestimmen heute kulturhistoriografisch, transkulturell und performancetheoretisch deutlich weiter gefasste Perspektiven die Diskussion über Szenografie. Das Spektrum der Inszenierung und kulturellen Produktion von Raum, die der Begriff demnach beschreibt, ist groß und gegenwärtig fast unüberschaubar geworden. Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies regelmäßig auf der Prager Quadriennale (PQ), dem weltweit bedeutendsten Präsentations- und Diskussionsforum für Szenografie und Performance Design. Initiiert wurde die Quadriennale in den 1960er Jahren von dem UNESCO-geförderten Theaternetzwerk ITI (International Theatre Institute / Institut international du théâtre / Internationales Theaterinstitut). Für den Standort Prag hatte man sich entschieden, nachdem auf der Kunstbiennale São Paulo (Bienal de São Paulo), einer Ausstellung für Malerei, Skulptur, Grafik und auch Bühnenbild, in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren Beiträge tschechischer Künstler (František Tröster, Josef Svoboda, Jiří Trnka und Ladislav Vychodil) besonders auffielen und wiederholt erste Preise gewonnen hatten.3 Die erste PQ fand 1967 unter Beteiligung von insgesamt 20 Ländern aller Kontinente statt, darunter beide Teile des damals geteilten Deutschlands. Auch bis Ende des Kalten Kriegs wurde sie regelmäßig alle vier Jahre durchgeführt und gewann seit den 1990er Jahren – mit zuletzt pro Edition etwa 60–70 beitragenden Ländern – noch an Umfang und Sichtbarkeit. Anfänglich als Länderwettbewerb angelegt (mit dem Hauptpreis „Goldene Triga“), versteht sie sich heute als Festival. Ihr Hauptprogramm, die „Exhibition of Countries and Regions“, wird nunmehr begleitet von Performances, Hochschulforen, Workshops, Lectures sowie Symposien und Buchpräsentationen, mit denen man sich zudem auch die theoretische Reflexion und wissenschaftliche Beforschung der Szenografie zur Aufgabe macht. Doch nicht nur das Programm, sondern auch ihr Name hat sich seither verändert: Nachdem sie zunächst als „International Exhibition for Stage Design and Theatre Architecture“ firmierte, präsentierte man sich ab 2003 als „International Exhibition for Scenography and Theatre Architecture“, und seit 2011 heißt sie offiziell: Prague Quadrennial of Performance Design and Space. Diese Namensänderungen – mit dem Verzicht auf die Termini ‚Bühnenbild‘ und ‚Theaterarchitektur‘ – signalisieren mehrmalige Perspektivwechsel, begriffliche Neujustierungen und ein offenbar ständig in Bewegung befindliches Denken über die Bühne und ihre Gestaltungen (vgl. Lotker/Gough 2013, Lotker 2015, Fantová/Príhodová/Drábek 2023). Besonders signifikant sind dabei zweierlei Aspekte: zum einen, dass Szenografie, nach heutigem Verständnis, eine holistische und ‚kompositorische‘ Praxis ist, die sowohl Bühnenraum-, Objektgestaltung, Kostüm- und Maskenbild wie auch Licht-, Video- und Sounddesign einschließt (dafür steht, synonym, auch der Begriff ‚Performance Design‘). Die zweite Annahme ist, dass sie eine Kunst bzw. Gestaltungsdisziplin ist, die Konstellationen des Zusammenkommens, des Zeigens und Wahrnehmens sowie der Interaktion und teilnehmenden Reflexion entwirft und als solche in verschiedenen Kunst- oder auch Alltagskontexten (Theater, Ausstellung/Museen, Eventkultur, öffentliche urbane Räume, Onlinewelten) in geradezu kulturstiftender Funktion auftritt. Wie Jon McKenzie und andere bemerkt haben, ist ein solch breit gefasster, globaler Begriff von Szenografie freilich summarisch, abstrakt und kann bis auf Weiteres nur provisorisch sein (vgl. ders. 2008).
Um die Erscheinungsformen des Szenografischen in Geschichte, Gegenwart sowie in den vielfältigen Begegnungen und Verflechtungen ihrer europäischen und außereuropäischen Traditionen erfassen zu können, entwickelten die (überwiegend anglophonen) Scenography & Performance Design Studies den Begriff seit den 2000er Jahren gleichsam zu einem Suchbegriff; seither wurde er immer wieder befragt oder auch redefiniert. Auch die Einleitung des US-amerikanischen Theaterwissenschaftlers Arnold Aronson zu dem von ihm edierten, historiografisch und kulturvergleichend angelegten 600-Seiten-Kompendium The Routledge Companion to Scenography (2018) verzichtet nicht auf eine abermalige Auseinandersetzung mit dieser Begriffsdebatte. Seine eigenen Beobachtungen zum Wandel von Ästhetiken und künstlerischen Praktiken, die er als langjähriger Begleiter der Prager Quadriennale zum damaligen Zeitpunkt machte, fasste er wie folgt zusammen: „If the PQ is seen as a barometer of world scenography, then the purely visible, concrete, and semiotic aspects of scenography are being replaced by the spatial, the temporal, and the intangible“ (ebd., 12).
Dieser Eindruck mag auch heute noch weitgehend zutreffen, doch das Forschen mit und Denken über Szenografie geht weiter. Die Krisenerfahrung der weltweiten Coronapandemie 2020–2022, die unter den Künsten besonders die aufführenden Künste existenziell betraf, bedeutete gerade auch für diese Kunst und Gestaltungspraxis (und die gesamte dazugehörige Berufsgruppe) eine Zäsur. Viele Fragen stellen sich seither neu bzw. anders: Fragen nach Ästhetiken und, verstärkt, auch nach der Sozialität des Szenografischen (Stichwort: Shared spaces-Konstellationen der Teilnahme und Teilhabe, Diversität, Co-Kreation und inklusives Gestalten) sowie nach Digitalität, Technizität und ökologischer Nachhaltigkeit in der Szenografie. Künstlerische Auseinandersetzungen mit diesen Fragen zeichnen sich aktuell vielfältig ab, und in der Theorie beschäftigt die basale Frage nach dem Ort, Stellenwert und der gesellschaftlichen Relevanz, die Theater und Bühnen heute und zukünftig haben, die Szenografie- und Performance-Design-Forschung.
Perspektiven der Scenography & Performance Design Studies
Die Reflexion der eigenen Begriffe steht, wie erwähnt, immer wieder am Anfang. Anlässlich seines Vortrags auf der internationalen Konferenz The Art of Scenography (München, 2016) stellte der Theaterwissenschaftler Christopher Balme die Frage, inwieweit der Terminus im heutigen Sprachgebrauch überhaupt verbreitet ist und nutzte dazu den „Google Books Ngram Viewer“, ein Programm, das erlaubt, sämtliche auf Google-Servern gespeicherte, online verfügbare Bücher und Texte per Data Mining nach einem Begriff oder Ausdruck zu durchsuchen.4 Rein quantitativ kann so die Häufigkeit der Verwendung eines Begriffs im Zeitraum von 1950 bis heute ermittelt werden. Die Suche nach dem Terminus „Szenografie“ in deutscher, englischer und französischer Sprache ergab, dass das schon sehr alte, auf Aristoteles zurückgehende Wort hier erst etwa ab den 1960er Jahren in nennenswertem Umfang gebräuchlich wurde. Eine weitere Analyse zeigte, dass der Begriff überwiegend im akademischen Kontext verwendet wird (das heißt, weniger häufig in der Praxis und seitens der Künstler:innen und Gestalter:innen selbst).5 Zu ähnlichen Ergebnissen kam, auch hinsichtlich weiterer Sprachen (Spanisch, Italienisch, Dänisch u. a.), die britische Kunst- und Designtheoretikerin Rachel Hann in ihrer Studie Beyond Scenography (2019). Anhand einschlägiger Lexika (u. a. Webster’s und Oxford English Dictionary) wies sie zudem nach, wie Begriffsverständnis und -gebrauch sich in den letzten Jahrzehnten verändert haben: Besonders auffällig zeige sich demnach eine Koinzidenz zwischen Einträgen seit den 1960er Jahren und der Gründung der Prager Quadriennale, die sich, wie erwähnt, seither zur Aufgabe macht, innovativer Bühnengestaltung zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen und den kulturellen Austausch zu befördern. Als Schlüsselfigur in der Formierungsphase der PQ gilt der tschechische Bühnenbildner Josef Svoboda: Seine Theaterarbeiten mit der Kompagnie Laterna Magika und sein an das Erbe der europäischen Theater-Avantgarde anschließender, aufsehenerregender Einsatz von Bühnentechnik, Licht, Bildprojektion und multimedialer Bühneninstallation (Diapolyekran) gelten vielen als wegweisend (vgl. Schechner 1968/1994, Aronson 2018). International bekannt wurde er in einem großen Radius durch Engagements und Gastspiele an namhaften Theater- und Opernhäusern in und außerhalb Europas und, vor allem in den USA, durch mehrere ihm gewidmete, monografische Bücher des New Yorker Theaterprofessors Jarka M. Burian. Diesen Bänden ist zu entnehmen, dass Svoboda Bezeichnungen wie Dekoration oder Kulisse für seine Kunst ablehnte – zugunsten von „Szenografie“, die er explizit als künstlerischen Vorgang, als Prozess verstanden wissen wollte: „True scenography is what happens when the curtain opens“ (zit. nach Burian 1971, 15). Entsprechende Verschiebungen weist Hann in den Einträgen des Oxford English Dictionary nach: Anstatt als „Scene painting“ im tradierten Sinne (Bemalen der ‚skene‘) oder als „Scenic design“ bzw. „Stage design“ (Bühnenbild) wird Szenografie, im Sinne eines ‚tschechischen Verständnisses‘, in neueren Ausgaben holistisch definiert („design and use of scenery, costume, lighting, etc. to create an effective performance environment; theatrical design, stage craft“).6 Auszugehen sei daher, so Hann, von zweierlei Übertragungen des Begriffs in die gegenwärtige Diskussion („first and second adoption“, vgl. dies. 2019, 40–42), und das zweite, holistische Begriffsverständnis bildet einen wesentlichen Referenzpunkt aktueller Szenografie-Forschung.
Besonders in der anglophonen Academia hat sich seit der Jahrtausendwende, oft in enger Verbindung von künstlerischer Praxis und Theorie, eine sehr lebendige Forschungsdiskussion zu Szenografie und Performance Design entwickelt. Eine wichtige Impulsgeberin war die britische Regisseurin, Szenografin und Hochschulprofessorin Pamela Howard, deren Buch What is Scenography? (2002) seither mehrfach aufgelegt und in sieben Sprachen übersetzt wurde. Bereits Mitte der 1990er Jahre war sie zudem Initiatorin eines (bis 2016 bestehenden) Szenografie-Netzwerks europäischer Kunsthochschulen (in Prag, Helsinki, Utrecht, Barcelona, Zürich und London). Grundsätzlich ging es Howard – im kritischen Blick auf gewachsene Hierarchien (Regie/Dramaturgie/Szenografie/Ensemble) – zunächst um eine vermehrte Würdigung des co-kreativen Beitrags von Szenograf:innen zur Inszenierungsarbeit und um die entsprechende (Neu-)Bestimmung ihrer Rolle und Position im künstlerischen Produktionsprozess: „It is very important to use scenography as a more accurate way of describing the role of the visual artist in the theatre, no longer being a servant but rather a leader, a creator or an initiator and a collaborator“ (dies. 2002, 73).
Seitdem nahmen die Scenography & Performance Design Studies7 als eine interdisziplinäre, zunächst vor allem theater-, kunst- und medienwissenschaftliche Ansätze verbindende Szenografie-Forschung deutlich an Fahrt auf. Zunächst mit dem Ziel, notwendige Grundlagen zu schaffen, entstand eine ganze Reihe einschlägiger Publikationen, darunter Dorita Hannah/Olaf Harsløf: Performance Design (2008), Joslin McKinney/Philip Butterworth (Hg.): The Cambridge Companion to Scenography (2009), Jane Collins/Andrew Nisbet (Hg.): Theatre and Performance Design: A Reader in Scenography (2010) und die bereits erwähnten Bände von Rachel Hann (Beyond Scenography, 2019) und Arnold Aronson (The Routledge Companion to Scenography, 2018). Des Weiteren finden sich Studien mit besonderen Schwerpunkten, z. B. Aronsons The History and Theory of Environmental Scenography (1981/2018), Neill O’Dwyers Digital Scenography. 30 Years of Experimentation and Innovation in Performance and Interactive Media (2021), oder der Band von Tanja Beer: Ecoscenography. An Introduction to Ecological Design for Performance (2022). Neu etablierte Reihen mit Szenografie-Focus bei renommierten Verlagen (z. B. Performance+Design bei Bloomsbury Publishers, London/New York) und Fachzeitschriften (International Journal for Theatre & Performance Design, London) wurden zu wichtigen Plattformen. Forschungsarbeiten und -austausch werden zudem befördert durch die Working Group „Scenography“ der International Federation for Theatre Research (IFTR/FIRT) sowie weitere anglophone (und frankophone bzw. multilinguale) Initiativen, wie prominent das an der Pariser Sorbonne Nouvelle bestehende Laboratoire International de Recherche sur l’Image et la Scénographie / International Image and Scenography Research Laboratory (LIRIS).8 Während sich die Forschungsansätze ausdifferenzieren, teilen alle diese Arbeiten Pamela Howards Grundannahme – nämlich die, dass szenografische Gestaltung allen Formen des Theatermachens und Aufführens inhärent ist, oder anders gesagt: Alle Ereignisse, die inszeniert sind und eine Dramaturgie und Choreografie haben, sind auch szenografiert. Zugleich, wie Aronson, Hann und andere betont haben, gilt für die Szenografie (mit ihren Teilbereichen Bühnenraum-, Objektgestaltung, Kostüm- und Maskenbild, Video-, Licht- und auch Sounddesign), dass sie ihrerseits stets aus der Autorschaft mehrerer Beteiligter hervorgeht:
Scenography is operationally a collaboration between the designed elements within theatre, as well as a collaboration between the individuals who formulate these elements. While an individual may choose to adopt the term ‚scenographer‘, the technical and artistic realization of scenography will always exceed the remit of one individual outside of a one-person production. (Hann 2019, 57)
Ähnlich betont der deutsche Regisseur und Autor Christian Barthelmes – im Blick auch auf Ausstellungsszenografie –, dass eine ihrer Besonderheiten darin liegt, dass sie, als holistische Disziplin, zum einen multidisziplinäres Entwurfswissen und unterschiedlichste Kompetenzen verlangt und zum anderen ihrerseits auf verschiedensten Bühnen, Kunst- und Gestaltungsfeldern (Theater, Ausstellung/Museen, Eventkultur, öffentliche urbane Räume, Onlinewelten) operiert: „Gegenüber den Künsten, namentlich der Architektur, der bildenden und der darstellenden Kunst, der Musik und der Literatur, ist die Szenografie sowohl Teil- als auch Integrativdisziplin“ (ders., zit. nach Brückner 2011, 18). Auffassungen von Szenografie und Performance Design als Hyper-Disziplin und „global art form“ wurden einige Zeit lang allerdings kontrovers diskutiert – zugunsten der Einsicht, dass szenografische Praxis sowie auch die ästhetische Wahrnehmung und Sozialität szenografierter Räume stets situiert sind (vgl. McKenzie 2008, von Arx/Wiens 2019/2021). Denn auch wenn unterschiedliche Theaterkulturen über Grenzen hinweg durch künstlerischen Austausch, Koproduktionen und Gastspiele heute längst miteinander verwoben sind, oder wenn Museen weltweit bei der Planung, Gestaltung und Durchführung von Ausstellungen kooperieren, sind die institutionellen Rahmenbedingungen, Fördersysteme und habitualisierten Praktiken der Szenografie und auch die kulturellen Traditionen und Publikumserwartungen durchaus unterschiedlich. Nicht nur wegen der erwähnten Differenzen in Sprache, Semantik und Verwendung des Begriffs, sondern eben wegen dieser Situiertheit zeigt sich, wie PQ-Kurator Serge von Arx konstatiert, je nach Kontext und Kulturkreis ein etwas anderes Verständnis von Szenografie: „This relates to the fact that scenography as an art practice and discourse is always part of a larger disposition, that is, of the theatre, the museum, the respective audience and the social circumstances“ (ders., zit. nach Wiens 2019/ 2021, 219).
Szenografie- und Performance-Design-Forschung steht damit vor mehreren Herausforderungen. Angesichts der Vielgestaltigkeit des szenografischen Spektrums und dessen transdisziplinärer und transkultureller Breite bedarf es einer wissenschaftlichen Systematisierung und auch Einhegung des Gegenstands, um theoretische und analytische Zugänge schaffen zu können. Bisher führten Wege über die Beschäftigung mit Teilgebieten wie der Theaterarchitektur (Dorita Hannah: Event Space, 2018), Technikgeschichte (Christopher Baugh: Theatre, Performance and Technology. The Development and Transformation of Scenography, 2013), dem Kostüm (Donatella Barbieri: Costume in Performance, 2017) oder Licht (Scott Palmer: Light, 2013, ders./Katherine Graham/Kelli Zezulka (Hg.), Contemporary Performance Lighting, 2023). Einen anderen Weg wählte Arnold Aronson als Herausgeber des schon erwähnten Routledge Companion (2018), indem er mögliche Perspektiven auf diesen kaum überschaubaren Gegenstand in vielstimmigen Beiträgen (von über 40 internationalen Autor:innen) abzubilden suchte – mit dem Anspruch, synchrone und diachrone Untersuchungen zu Szenografie in verschiedenen Genres, Künsten und Kulturen vorzulegen und zudem eine tragfähige Terminologie und Bausteine zu einer Theorie zu erarbeiten, die verschiedene Problemstellungen und Ansätze (hermeneutisch, phänomenologisch, historisch-kritisch, kulturvergleichend, medientheoretisch, u. a.) miteinander verbindet. Die Frage, wie weit der Szenografie-Begriff reicht und ob eigentlich alles, was szenografiert wurde, auch ‚Szenografie‘ ist (im künstlerischen Sinne oder als Gebrauchsdesign bzw. kommerzielle Szenografie), behandelt, ebenfalls vielstimmig, ein edierter Band von Scott Palmer und Joslin McKinney (Scenography Expanded. An Introduction to Contemporary Performance Design, 2017). Aufgaben der Szenografie-Forschung sind demnach die Auseinandersetzung mit ästhetischen Praktiken und Gestaltungsprozessen der Szenografie im Spannungsfeld zwischen Entwurf, Produktion sowie Aufführungsereignis, Rezeption und Publikumserleben und, auf übergeordneter Ebene, die Frage nach szenografischem Wissen und der kulturstiftenden Dimension des Szenografischen.
Die Schrift auf dem Asphalt, oder: warum dieses Buch
Die vorliegende Studie basiert zu großen Teilen auf Ergebnissen meines DFG-geförderten Forschungsprojekts zu Szenografie, das 2015 bis 2020 an der LMU München durchgeführt wurde und sich – im Blick auf den deutschsprachigen Kontext (D/A/CH) – mit Ästhetiken und Epistemen dieser Kunst und Gestaltungspraxis befasste.9 Meine eigene Beschäftigung als Theaterwissenschaftlerin mit dem Gegenstand begann bereits in den Nullerjahren: Den Anlass gab damals ein Lehrauftrag im Studiengang Szenografie an der HfG Karlsruhe (geleitet von dem Bühnenbildner und Regisseur Michael Simon), gefolgt von einer langjährigen Beschäftigung mit diesem Gegenstand in Lehre und Forschung (und unzähligen Aufführungs- und Ausstellungsbesuchen im Theater und an ‚anderen Orten’, auch jenseits gebauter Bühnen). ‚Szenografie‘, ein Wort, das nach wie vor hierzulande eher wenig gebraucht wird, mag in der Wahrnehmung vieler etwas Akademisches, Prätentiöses haben. Als der Karlsruher Studiengang Anfang der 1990er Jahre eingerichtet wurde (bis 1998 hatte Johannes Schütz die Professur inne), war diese Denomination aber Programm und stand für ein künstlerisch forschendes Nachdenken über Räume und für experimentelles Entwerfen. In unmittelbarer Nachbarschaft des zeitgleich als ‚digitales Bauhaus‘ gegründeten Zentrums für Kunst und Medien (ZKM) sollten alle Künste und gestaltenden Disziplinen in einem offen gehaltenen Verständnis von Bühne, Ausstellung und Szenografie verbunden werden. Etwa zur gleichen Zeit arbeitete Martin Roth, Kulturwissenschaftler, Leiter des Kulturprogramms der EXPO Hannover und späterer Direktor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und des Victoria and Albert Museums in London, an der Einführung eines erweiterten Szenografie-Begriffs in die Bereiche Veranstaltungsplanung und Ausstellung. Zum Diskussionsstand im Jahr 2000 formulierte er folgendes Statement:
Der Begriff Szenografie existiert in Deutschland nicht. Wenn er benutzt wird, dann nur in Bezug auf das Theater, begrifflich nahe am Bühnenbild (…). Als zu Beginn der 1990er Jahre Heinrich Klotz an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe einen Lehrstuhl für Szenografie etablierte, begann kurzfristig eine Diskussion, ob dies der Beginn einer Vermählung zwischen Theater und Museum/Ausstellung sein könnte. (Heute) (…) weiß man, (…) dass Theater und Ausstellung weiter getrennt betrachtet werden. Oberflächlich kann davon ausgegangen werden, dass Szenografie ein Abkömmling der Event-Kultur ist. Wo viel schnelllebig inszeniert wird, die Theater den Theaterraum verlassen, Unternehmen die klassischen Messen auf Showniveau trimmen und die Tourismusbranche den Urlaub zum Ereignis stilisiert, wird das Kreieren von künstlichen Welten notwendig, wird ein Regisseur benötigt, der vermeintliche Realität inszeniert, die Soap-Opera zum wirklichen Leben macht. (Roth 2000, 84)
Roth beschrieb damit zweierlei: zum einen eine weitreichende Fremdheit gegenüber dem Begriff und ein Beharren auf Gattungsgrenzen, das bis in die künstlerisch-gestalterischen Praxisfelder und in die Profile von Studiengängen hinein prägend wirkte, sowie, zum anderen, die Verortung szenografischen Gestaltens zunächst vor allem in Eventkultur und Kommerz. Wenngleich nicht in der Breite, zeichneten sich in der künstlerischen Praxis und auch institutionell damals durchaus schon disziplinübergreifende Öffnungen und Anschlüsse ab. Blickt man beispielsweise ins Museumswesen, so haben sich szenografierte, das heißt, mit Theatermitteln erarbeitete, dramaturgisch gedachte, komplex inszenierte und gleichermaßen auf Kommunikation, Vermittlung und sinnliche Erfahrung angelegte Ausstellungen, wie auch Roth sie vorschlug, seit Ende der 1990er Jahren mehr und mehr durchgesetzt (vgl. Kiedaisch/Marinescu/Poesch 2021). Ebenso kommen auch die Gestaltung medialer Räume und die sich quer durch verschiedene Disziplinen stellende Frage, wie Räume „durch Medien konstituiert“ und in diesen gestaltet werden (vgl. Günzel 2018), ohne den Szenografie-Begriff kaum aus. Auch Theater (wie die vorliegende Studie ausführlich zeigt) verlangt heute einen erweiterten Szenografie-Begriff. All dies hat bis dato allerdings nicht dazu geführt, dass sich der Begriff im deutschsprachigen Raum durchgehend (oder gar in einem übereinstimmenden Verständnis) etablieren konnte. Abermals zeigt sich dies in der Denomination von Studiengängen, die auch heute üblicherweise entlang disziplinärer Grenzen formuliert werden, Beispiele sind: Bühnen- und Kostümbild (Akademie der Bildenden Künste München, ABK Stuttgart, u. a.), Bühnenbild (UdK Berlin) oder Szenografie/Production Design (Filmhochschule Babelsberg) sowie Ausstellungsdesign und Szenografie (HfG Karlsruhe), Szenografie und Kommunikation (FH Dortmund), Innenarchitektur und Szenografie (FH Basel). Andere dagegen, wie z. B. der Studiengang Bühnenbild/Szenischer Raum (HfG Offenbach), suchen über ihre Namensgebung ein disziplinär offenes Profil anzuzeigen, und am Mozarteum Salzburg firmiert ein neuer, transdisziplinärer Studiengang zur Bühnengestaltung in den Bereichen Bühnenbild, Kostümbild, Lichtdesign, Film- und Ausstellungsarchitektur unter dem Namen Szenografie.10
Die Erarbeitung theoretischer und analytisch-methodischer Zugänge zu Szenografie / szenografischer Gestaltung als Forschungsgegenstand ist – schon allein angesichts der divergierenden Verwendungen und Interpretationen des Begriffs auf den verschiedenen Feldern – herausfordernd. Am Beginn des DFG-Projekts Szenografie: Episteme und ästhetische Produktivität in den Künsten der Gegenwart, aus dem das vorliegende Buch hervorgeht, stand daher zunächst die Erkundung des Diskussions- und Forschungsstands in ‚meinem Fach‘, der Theaterwissenschaft. Geht man davon aus, dass szenografische Gestaltung inhärentes Element jeder Inszenierung und jedes Aufführungsereignisses ist, so ist sie zweifellos Gegenstand der Theaterwissenschaft und fällt zugleich noch in weitere Kompetenzbereiche (u. a. der Kunst- und Medienwissenschaft, Architekturtheorie, Designforschung) und damit in ein ‚Dazwischen‘, wo sie allerdings lange wenig beachtet wurde. Im Vergleich zu den aktuell, wie erwähnt, sehr lebendigen Scenography & Performance Studies zeichnet sich eine deutschsprachige Szenografie-Forschung bislang eher verstreut ab; dabei sind gattungsbezogene und auch transdisziplinäre Ansätze erkennbar. Eine Vielzahl der Beiträge widmet sich der Ausstellungs- und Eventszenografie, die – im Nachgang zur EXPO 2000 sowie mit Großprojekten wie z. B. der Millenniumsschau Sieben Hügel: Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts (Martin Gropius-Bau Berlin, 2000) – in den Nullerjahren auch hierzulande geradezu einen Boom erlebte. Initiativen und Foren entstanden, z. B. das Szenografie Kolloquium der DASA Dortmund (seit 2000) oder die Konferenzreihe Raumwelten – Plattform für Szenografie, Architektur und Medien (Ludwigsburg/Stuttgart, 2013–2023), auf denen kuratorische und (raum-)dramaturgische Konzepte diskutiert und künstlerisches, gestalterisches und technisches Praxiswissen ausgetauscht wurden (vgl. Kiedaisch/Marinescu/Poesch 2021). Als Beitrag zur Erarbeitung theoretischer Grundlagen versteht sich hingegen die von der FH Dortmund verantwortete, medien- und designwissenschaftliche Publikationsreihe Szenografie & Szenologie, die, gleichwohl bezogen auf das „Ausbildungs- und Berufsfeld Szenografie“ und damit ebenfalls stark praxisbezogen, seit 2009 von Lehrenden der Hochschule herausgegeben wird.11 Seitens der Kunstgeschichte gab der an der Kunsthochschule Kassel lehrende Kunstwissenschaftler Kai-Uwe Hemken mit seinen Studien zur Ausstellungsszenografie und der von ihm entwickelten Perspektive einer „kritischen Szenografie“ wichtige Impulse (ders. 2015). Mit Blick auf die (deutschsprachige) Theaterwissenschaft, den fachlichen Kontext, aus dem heraus das vorliegende Buch argumentiert, bleibt dagegen festzustellen, dass Szenografie als Gegenstand bisher allenfalls marginale Berücksichtigung findet. Anliegen dieses Buchs ist es daher, Ansätze einer elaborierten Szenografie-Forschung vorzustellen, die an Fragestellungen und Methoden aktueller Theaterforschung anschließbar sind (vgl. Kap. I.).12 Mit den anglophonen Scenography & Performance Design Studies wird dabei die grundlegende Annahme geteilt, dass Szenografie (d. h. ästhetische, technische sowie operative Prozesse szenografischen Gestaltens) ebenso wie Dramaturgie und Choreografie jedem Inszenierungs- und Aufführungsvorgang inhärent ist. Zudem wird von einem erweiterten Szenografie-Begriff (expanded scenography) ausgegangen, jedoch nicht, um Unterscheidungen (z. B. zwischen Theater- und Ausstellungsszenografie) von vornherein preiszugeben. Die These lautet vielmehr, dass es vor allem die gattungsüberschreitenden Übertragungen, künstlerischen Reinterpretationen und Reflexionen szenografischer Praktiken sind, in denen ästhetische Produktivität und szenografisches Gestaltungswissen erkennbar werden.
Die bisherige Vernachlässigung des Gegenstands in der (deutschsprachigen) Theaterwissenschaft und auch das weitgehende Fehlen einer komparatistischen Auseinandersetzung mit anderen Feldern von Kunst und Design, wie sie der vorliegende Band vorschlägt, mögen fachgeschichtlich bedingt sein. Ein Grundproblem ist, dass das Material, das von der ereignisbezogenen Kunst des Szenografischen bleibt (Entwurfszeichnungen, Modelle, Probennotizen, Pläne, Notationen, Proben- und Aufführungsfotos sowie Beschreibungen in Kritiken oder Zuschauerberichten), fast ebenso so flüchtig-vergänglich ist, wie die Aufführungsereignisse selbst: Ist eine Ereignis vorbei, eine Inszenierung abgespielt, so ist keineswegs selbstverständlich, dass jenes Material (oder auch nur Teile davon) als Dokument und Quellenmaterial für die Nachwelt bewahrt oder sogar professionell archiviert werden. Ähnliches gilt für die gebauten Bestandteile und materiellen Artefakte, denen – sobald aus dem Ereigniskontext gerückt – üblicherweise kein eigener Wert oder gar Kunststatus zuerkannt wird. Allerdings ist das Transitorische ihres Forschungsgegenstands in der Theaterwissenschaft ein generelles Problem und wohlbekannt aus der Auseinandersetzung mit allen anderen Elementen von Inszenierung/Aufführung. Die marginale Behandlung des Szenografischen muss folglich noch andere Gründe haben (vgl. Kap. II.1.). Eine der Ursachen mag in ihrer traditionellen (längst überholten) Geringschätzung als ‚angewandter‘ Kunst liegen, die sich in der Formation des Fachs – geradezu notorisch – bis heute verfestigt hat. Ein Desiderat ist daher, in der Analyse von Inszenierungen die Szenografie als mitkonstituierenden, integral mitgestaltenden Faktor zu berücksichtigen. Gleiches gilt für die Aufführungsanalyse: Seit den 1970er Jahren wurde – im Anschluss an Max Herrmann, einen der Gründerväter des Fachs, und dessen basaler Definition des Theaters als „Raumkunst“ („Das theatralische Raumerlebnis“, 1931) – die Aufführung zum „grundlegenden Definiens von Theater“ erklärt. Ihre Analyse gilt seither als ‚Herzstück‘ theaterwissenschaftlicher Theorie- und Methodenentwicklung (Fischer-Lichte/Kollesch/Warstat 2014, 375 und 15ff.). Weiter verständigte man sich im Fach darüber, vier Raumkategorien zu unterscheiden: Theaterarchitektur (theatraler Raum) und Bühne/Bühnenraum (szenischer Raum), Aufführungsort/Stadt/kulturelle Umgebung (ortsspezifischer Raum) sowie Drama/Theatertext (dramatischer Raum), mit der darin niedergelegten Raumsemantik (Balme 1999/2021, 162). Auf Herrmanns Betonung ihres Erlebnisaspekts (Konventionen seiner Zeit geschuldet, finden sich Bühnenbild/-gestaltung in seiner Schrift nur am Rande erwähnt), gingen später an die Theatersemiotik anschließende, phänomenologische Perspektiven (Roselt 2008, u. a.) davon aus, dass die Aufführung weniger über die Beschreibung ihrer Visualität, sondern vor allem als erlebnisbezogener Vorgang zu analysieren sei. Dass man den Fokus auf die (als theaterkonstitutiv gesetzte) ‚leibliche Ko-Präsenz‘ von Darstellenden und Publikum legte, geschah um den Preis weitgehender Ausblendung szenografischer, sich in Theaterereignissen ebenso materialisierender Faktoren. Obwohl mitgestaltendes, ‚mitspielendes‘ Element, wird Szenografie allenfalls als etwas thematisiert, das nur durch die spielende bzw. wahrnehmende Tätigkeit von Darstellenden und Publikum aktiviert wird. Mit anderen Worten: Der Beitrag von Szenografie als kreativer, die Ästhetiken von Inszenierung/Aufführung mitprägender Faktor wird mit diesem Methodeninstrumentarium kaum erfasst. Folglich wird immer wieder vergessen oder übersehen, dass Szenografie längst anderes meint als ein den anderen Theatermitteln subordiniertes ‚Ausstatten‘, ‚Kostümieren‘, ‚Dekorieren‘ und ‚Beleuchten‘ von Bühne bzw. Bühnenraum. Denkt man hingegen an die Vielgestaltigkeit der Szenografien, Bühnenformen und Raumkonzepte (v. a. seit der Theatermoderne) oder an Environmental Scenography (seit den 1960er Jahren) und, aktuell, zudem an das breite Spektrum von Expanded Scenography und intermedialer Szenografie, so wird das ästhetische und epistemische Potenzial dieser Kunst erkennbar, die mit allen vier Raumkategorien des Theaters künstlerisch umgeht (vgl. Kap. I.2. und 3.). Szenografien und ihre Elemente wären demzufolge eben nicht als ‚Ausstattung‘, sondern als inhärent mitkonstituierender künstlerischer Faktor und, in dem Sinne, als Mitspieler der Aufführung zu begreifen; gewohnheitsmäßig und mangels geeigneter theoretisch-methodischer Zugänge, fällt dies jedoch oft aus dem analytischen Blick. Hinzu kommt – und das, obwohl wir im deutschsprachigen Raum mit einer im Ausland viel bewunderten Theaterdichte von einer „Tradition der Vielfalt“ szenografischer Gestaltungen ausgehen können (wie ein Beitrag auf der Website des Goethe-Instituts unter dieser Überschrift annoncierte, vgl. Berghausen 2020) –, dass sich diese Problematik mithin bis in die Theaterkritik hinein fortschreibt, oder wie die Bühnenbildnerin Katrin Nottrodt im Gespräch mit der Verfasserin des erwähnten Beitrags reklamierte:
Das Bühnenbild hat leider nicht immer einen hohen Stellenwert. (…) Etwas ketzerisch ausgedrückt: Wenn das Bühnenbild in den Kritiken nicht erwähnt wird, dann hat es nicht gestört. Schlimmer ist es noch im Kostümbild und für die Lichtdesigner, die häufig gar nicht erwähnt werden. (…) Eine größere Beachtung und Wertschätzung wäre zu wünschen (…) (zit. nach Berghausen 2020).
Wie um dem entgegenzusteuern, erschien – aus der künstlerischen Praxis heraus – in den letzten rund zwanzig Jahren eine auffallend große Anzahl monografischer Publikationen, die von Szenograf:innen oft mitherausgegeben oder von ihnen selbst in Auftrag gegeben wurden, um die eigene Arbeit zu dokumentieren. Einige dieser Bücher kamen in der Bühnenbildreihe von Theater der Zeit heraus, darunter Bände zu Bert Neumann, Jan Pappelbaum, Katrin Brack, Barbara Ehnes, Annette Kurz, Sebastian Hannak, Michael Simon und Martin Zehetgruber, weitere bei Suhrkamp (Wilfried Minks) oder Hatje-Cantz (Johannes Schütz), und Janina Audick publizierte ihr Buch mit dem selbstbewussten Titel Talent 2018 bei der Züricher Edition Frey. Offenkundig artikuliert sich damit ein auf Künstler:innenseite verstärktes Interesse, ihre Ateliers und die Probebühnen zu öffnen, um szenografische Entwürfe und Signaturen als Teil von Theaterarbeit zu zeigen, zur Diskussion zu stellen und als ästhetische und epistemische Praxis und auch als Denkform kenntlich zu machen. „Ich baue im Grunde keine Räume, sondern denke räumlich“, schrieb etwa Wilfried Minks (zit. nach ders./Maack 2011, 247). Eine weitere Künstlerin, die in dem Sinne prominent hervortrat, ist Anna Viebrock: 2011 konzipierte sie in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Architekturmuseum (SAM) eine Ausstellung mit einer Auswahl ihrer Entwurfszeichnungen und Bühnenbildmodelle; nach ihrer ersten Präsentation in Basel tourte die Ausstellung erfolgreich europaweit und wurde an zahlreichen Orten, namentlich Rotterdam, Prag, Madrid, Brüssel, Gent, Avignon, Helsinki, Frankfurt am Main und Gießen, dem interessierten Publikum gezeigt. In der theaterwissenschaftlichen Forschung oder auch rezenten, interdisziplinär angelegten Forschungen zum ‚Wissen der Künste‘ wurden solche Dialog- und Reflexionsangebote aus dem Feld von experimentellem Bühnenbild, Szenografie und Performance Design bisher jedoch kaum berücksichtigt. Die folgenden Untersuchungen zu Epistemen und Ästhetiken des Szenografischen mögen dazu beitragen, hier einige Lücken zu schließen.
Von diesen Überlegungen ausgehend, skizziert das vorliegende Buch aktuelle Tendenzen in der Szenografie und legt den Fokus vor allem auf die Produktionsseite, also auf Szenografieren und Theater-Machen. Gefragt wird nach ästhetischen Praktiken sowie nach Kulturtechniken, Phänomenotechniken, Werkzeugen, Medien und jeweils leitenden Überlegungen szenografischen Entwerfens (Kap. II.2.). Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Schnittstelle zwischen Atelier/(Probe)Bühne und der Frage nach Kommunikation, Transfer und Realisierung von Entwurfsideen unter den Bedingungen von Institution, Apparat, Gewerken, Probenprozess und schließlich der Aufführung. Da Szenografie (verstanden als künstlerische Gestaltung von Raum, Kostüm- und Maskenbild sowie Video-, Licht- und auch Sounddesign), wie dargelegt, nicht ‚Werk‘ eines/r Einzelnen ist, stellt sich – mit einem Begriff Dieter Merschs – zudem die Frage nach ihrer kom-positorischen Logik und danach, wie sie sich – in Relation zu Regie, Dramaturgie, Choreografie und szenischer Aktion – mit ihrer Materialität, Medialität sowie ihren Bedeutungs- und Wahrnehmungsdimensionen jeweils ins Spiel bringt.13 Ein weiterer Leitgedanke der Untersuchungen ist, dass szenografisches Gestalten, mit Serge von Arx gesprochen, nie ,bei Null‘ beginnt („Design never starts from point zero“, zit. nach ders./Wiens 2021, 219). Gefragt wird daher nach Bezugnahmen (z. B. auf Alltagskontexte, Gebrauchsästhetiken, bildende Kunst oder auch auf historische Bühnenformen und ikonische Bühnenbilder bzw. Kostüme), nach Selbstthematisierung und Reflexion szenografischer Ästhetiken und Episteme (Metaszenografie), nach kritischer oder subversiver Praxis (Stichwort: Dehierarchisierung bzw. Dekomposition von Raumordnungen, Exposition und kritische Bearbeitung kultureller (Selbst-)Technologien, u. a.) sowie nach der Szenografie als einer Denkform. Zu beachten ist aber auch der Hinweis Dieter Merschs, wonach Szenografie in actu – und obwohl dabei auf Konzeption, Scripts, Proben und Theaterverabredungen basierend – ‚unregierbar‘ und letztendlich ‚unkontrollierbar‘ auftritt, was, nach Mersch, am wohl deutlichsten für ihre (Neu-)Betrachtung als Kunst spricht (vgl. ders. 2021). Über Analysen szenografischer Gestaltungen hinaus wird zudem im Anschluss an Foucault, Deleuze, Agamben und Andreas Reckwitz sowie in Auseinandersetzung mit rezenten Ansätzen theaterwissenschaftlicher Dispositivforschung nach Merkmalen, operativen Dynamiken und kreativen Wirkweisen der Szenografie als Dispositiv gefragt. Insgesamt sucht der vorliegende Band Theater- und Szenografie-Forschung systematisch zu verbinden, schafft dafür notwendige, bisher fehlende Grundlagen und versteht sich zugleich als Einführung in aktuelle Perspektiven der deutschsprachigen sowie der vergleichsweise deutlich lebendigeren, internationalen (bzw. anglophonen) Forschung zu Szenografie und Performance Design.
Dieses Buch und der Zeitpunkt seiner Fertigstellung waren eigentlich anders geplant – nämlich früher, zeitnah zum Laufzeitende des DFG-Projekts, aus dem es hervorgeht. Dann aber kam die Pandemie, die – wie wir alle erlebt haben – auch in der deutschen Theaterlandschaft tiefe Eingriffe in Apparat, Strukturen, Abläufe und institutionelle Bedingungen mit sich brachte und zudem bisherige Gewissheiten hinsichtlich des Stellenwerts, der gesellschaftlichen Funktion und ‚Systemrelevanz‘ der Künste erschütterte. Gerade auch für Szenograf:innen – von Haus aus Expert:innen für die Gestaltung von Bühnen, die stets zugleich ästhetische und auch soziale Räume sind – bedeutete diese Krisenerfahrung eine Zäsur, die jedes Denken über Szenografie notwendig an deren Kernfragen führte. Seither stellen sich viele Fragen neu (oder anders), die eine ästhetische und zudem auch ethische Dimension haben, namentlich Fragen zu Raum und Digitalität (digitale Bühne, intermediale Szenografie), zu ökologischer Nachhaltigkeit (Ecocriticsm und Szenografie) und zur sozialen Dimension szenografischen Gestaltens (,Shared Spaces‘, Szenografie als ‚Social Design‘). Und auch wenn viele dieser Fragen derzeit noch offen sind, sollen sie hier – erstmals in einer Zusammenschau – berücksichtigt werden. Insgesamt, soviel sei vorausgeschickt, lautet meine Hypothese, dass Szenografie im Dispositiv der darstellenden Künste unter den Bedingungen gegenwärtig anstehender Transformationen sogar eine Schlüsselrolle übernimmt, sofern sie – als Kunst eigenen Rechts – ihren eigenen, reichen Wissensfundus nutzt, ihn gestaltend, künstlerisch forschend und diskursiv einbringt und entschieden in die Zukunft wendet. Die Theaterwissenschaft und die Szenografie & Performance Design Studies hätten hier – Hand in Hand – die wichtige Aufgabe, diesen Transformationsprozess zu begleiten.
1 Markéta Fantová/Barbora Příhodová/Pavel Drábek: „How do we see performance design/scenography?“, in: About PQ (2023), (https://pq.cz/, Zugriff am 13.06.2024).
2 Der Begriff, als Bezeichnung für eine Praxis des Bemalens, Gestaltens der ‚skene’, findet sich erstmals bei Aristoteles um 335 v. Chr., vgl. Fuhrmann 1994, 14.
3 Die erste Prager Quadriennale (1967), die anfangs in Kooperation mit der Biennale São Paulo durchgeführt wurde, ging von folgenden Leitgedanken aus: „As compared to the Biennial in São Paulo, where (…) this particular section (Stage Design) was only subsequently included within the context of the Biennial of Visual Arts – the Prague Quadrennial is led in an effort to capture the specificity of stage design, the inseparability of scenography from the direction and all other components of a dramatic work, and the synthetic nature of this field.“, zit. nach 50 Years of PQ, hg. Arts and Theatre Institute Prague 2017, 8.
4 Die Konferenz The Art of Scenography: Practices and Aesthetics (Konzeption/Organisation: Birgit Wiens, Veranstalter: LMU München, in Kooperation mit der Akademie der Bildenden Künste, Bühnen- und Kostümbildklasse, Katrin Brack) fand 17./18.11.2016 in München statt, als Teilprojekt des von mir geleiteten Forschungsprojekts „Szenographie“, gefördert im DFG Heisenberg-Programm (2015–2020).
5 Vgl. die schriftliche Fassung des Vortrags in: Wiens (2019) 2021 (Konferenzpublikation), xv–xix.
6 Vgl. den Eintrag „Scenography“, in: Oxford English Dictionary (1993), zit. nach Hann 2019, 41.
7 Szenografie-Forschung, als ‚Scenography Studies‘, ging seit den Nuller Jahren aus verschiedenen Disziplinen (Theatre & Performance Studies, Kunst- und Designwissenschaft, Architekturtheorie, u. a.) hervor. Hatte Aronson gefordert: „It is perhaps time that ‚scenographic studies‘ emerge as a fully developed discipline to stand beside performance studies“ (2018, 4), bilden sie jedoch keine eigene Disziplin, sondern eine fachübergreifende wissenschaftliche Forschung, die sich mit dieser Kunst und transversalen, auf vielerlei Feldern operierenden Gestaltungspraxis befasst.
8 Die IFTR Working Group „Scenography“ besteht seit 1994, (https://iftr.org/working-groups/scenography). Die Plattform Laboratoire International de Recherche sur l’image at la Scénographie / International Image and Scenography Research Laboratory (LIRIS), die den Akzent besonders auf transkulturelle und kulturvergleichende Perspektiven legt, ist seit 2023 an der Sorbonne Nouvelle Paris 3 verankert, Leitung: Romain Fohr, (https://iret.fr/fr/espace-et-scenographie-liris).
9 Mein DFG-Projekt Szenografie: Episteme und ästhetische Produktivität in den Künsten der Gegenwart (2015-2020) umfasste die Konferenz The Art of Scenography (ABK München, vgl. Anm. 4) und die Tagung Szenografisches Wissen und das Archiv (Berliner Volksbühne, 01/2020); daraus hervor gingen der Konferenzband Contemporary Scenography: Practices and Aesthetics in German Theatre, Arts and Design (2019) 2021 und zahlreiche Beiträge (deutsch und englischsprachig) in wissenschaftlichen Sammelbänden und Fachzeitschriften (siehe Angaben im Anhang).
10 Vgl. die Selbstdarstellung des Studiengangs auf der Website der Hochschule, www.moz.ac.at/de/szenografie.
11 Vgl. „Editorial“, Bd. 7 der Reihe Szenografie & Szenologie, hg. v. Ralf Bohn und Heiner Wilharm.
12 Meinem Forschungsprojekt zu Ästhetiken und Epistemen der Szenografie (vgl. Anm. 8) ging ein weiteres Projekt, Intermediale Szenografie, voraus (Publikation der gleichnamigen Studie 2014 beim Fink Verlag, Paderborn).
13 „The hyphen (in com-position) does not only alienate the word, but demonstrates its own ‚com-position‘ out of the two particles ‚com‘ (…) and ‚position‘, the act of setting, of positing something. ‚Composition‘ as the so-called language of art thus means – in contrast to verbal language – to pose things, materials or actions by tying them together, joining them, not necessarily into one unit but to a certain interrelation or cohesion, which unfolds its own strength and power“, Mersch 2019/2021, 172.