Was wir nicht sehen, zieht uns an
Vier Thesen zu Call Cutta von Rimini Protokoll
von Heiner Goebbels
Erschienen in: Recherchen 96: Ästhetik der Abwesenheit – Texte zum Theater (08/2012)
Im Frühjahr 2005 konnte man in Berlin eine Theaterarbeit sehen, die vielleicht im engeren Sinne gar keine Theaterarbeit ist, und von der man vielleicht sogar eher sagen müsste, man habe sie nicht gesehen: eine Aufführung, die zwar keine spektakulären Aktionen bot, kein beeindruckendes Schauspiel, keinen virtuosen Protagonisten, kein verblüffendes Bühnenbild, eigentlich war niemand zu sehen, man blieb ganz allein, aber eine Aufführung, die mich dennoch mehr erreicht, nachhaltiger angeregt, und künstlerisch wie politisch stärker beschäftigt hat als vieles von dem, was in den vergangenen Jahren auf den Bühnen zu sehen war. Man begab sich zwar ins Hebbel am Ufer, statt einer Eintrittskarte bekam man aber ein Mobiltelefon, das wenig später klingelte: Am anderen Ende ist eine Stimme, eine englisch sprechende, in meinem Fall weibliche Stimme mit starkem indischen Tonfall; eine Stimme, mit der ich mich fast zwei Stunden unterhalte; eine Stimme, die mich mit sehr präzisen Anweisungen durch ein mir unbekanntes Berlin manövriert („zirka zehn Meter nach links, dann über die Straße, zwischen den beiden grauen Häusern durch, unter dem Papierkorb vor dem Zaun werden Sie ein Foto finden“ usw.). Offensichtlich kennt die Stimme sich bestens aus.
Plötzlich stehe ich vor einem Straßenspiegel, und die Stimme weiß sogar, wie ich...