1. Paradoxien und Dialektik
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Kritik des Theaters (04/2013)
Die postmodernen Theorien haben die Bewegung der Dialektik zur Paradoxie des Widerstreits aufgelöst. Sie haben damit auf die beiden Verfallstendenzen der Dialektik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts reagiert. Zum einen verflachte der dialektische Widerspruch zu einem Einerseits und Andererseits, wodurch er zu einer denkfaulen und konsequenzlosen Relativierung wurde. Zum anderen war die Dogmatisierung des aufgehobenen Widerspruchs in der erlösenden Synthese angesichts totalitärer Systeme unerträglich. Auf beide Verfallsformen reagierte die Postmoderne mit der Ersetzung des dialektischen Prozesses durch Selbstreferenz und Paradoxie. Heute ist zu erkennen, dass der vermeintliche Fortschritt im Denken den Triumph des Neoliberalismus ebenso ermöglichen half wie er zugleich jede Form von Kritik daran verhinderte. Der Relativismus postmoderner Kontingenz ist vehementer als es eine missverstandene Dialektik je sein konnte, und die Dogmatisierung postmoderner Denkmuster ist globaler als es eine totalitäre Dialektik je war. Eine Wiedergewinnung dialektischen Denkens und dialektischer Weltbeschreibung scheint heute ebenso unmöglich wie dringend notwendig.
Es benötigt Zeit und Arbeit, den Widerspruch von A und B als ein dialektisches Verhältnis von A und B zu denken, in welchem die Aufhebung des Widerspruchs als Möglichkeit vorhanden ist. Wenn A und B, wie in der Postmoderne üblich, als unverbundene Positionen nebeneinanderstehen und damit jedes Verhältnis zwischen ihnen...