Theater der Zeit

1 Rhythmus als sprechkünstlerisches Phänomen

von Julia Kiesler

Erschienen in: Recherchen 149: Der performative Umgang mit dem Text – Ansätze sprechkünstlerischer Probenarbeit im zeitgenössischen Theater (09/2019)

Texte müssen zu einer Realität werden, die nicht einfach abbildet, sondern die Sehnsucht oder Ahnung eines möglichen anderen nahe bringt. […] Der Text darf nicht als Mitteilung, als Information transportiert werden, sondern muß eine Melodie sein, die sich frei im Raum bewegt. Jeder Text hat einen Rhythmus, zwar nur unterschwellig, aber doch so spürbar, daß er wie bei einem Popkonzert vom Körper aufgenommen wird. (Müller 1990, 38 f.)

Der bereits mehrfach erwähnte Begriff „sprechkünstlerische Phänomene“ bezeichnet sprecherisch-stimmliche Gestaltungsmittel, die im Rahmen ihres künstlerischen Gebrauchs eine eigenständige Qualität sinnlicher Erfahrung erlangen. Sie treten nicht vordergründig in ihrer repräsentativen Funktion als Ausdruck oder Zeichen für den emotionalrationalen Gehalt einer sprachlichen Äußerung in Erscheinung, sondern werden in ihrer materiellen Präsenz auffällig wahrnehmbar. Sprechkünstlerische Phänomene sind in der Lage, in ihrer performativen Dimension als ästhetische Kategorie in vielfacher Weise zu wirken, d. h. als „ästhetische Erfahrung“ zu stören, zu irritieren, ästhetischen Genuss zu bereiten und Bedeutung zu konstituieren. Es sollen im Folgenden beispielhaft anhand der drei in dieser Studie untersuchten Probenprozessbeobachtungen der Sprechrhythmus als Komplexphänomen sowie die sprecherisch-stimmlichen Gestaltungsmittel Pause, Sprechgeschwindigkeit und Stimmklang als sprechkünstlerische Phänomene beleuchtet werden, die den Erscheinungsformen des polyphonen, chorischen, mikrofonierten Sprechens sowie dem methodischen Ansatz des Wort-für-Wort-Sprechens entspringen.

Der...

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