Theater der Zeit

4.5 Involvierung durch körperliches Berühren in SIGNAs Wir Hunde

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

Assoziationen: SIGNA

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Im folgenden Unterkapitel zeige ich am Beispiel von SIGNAs Wir Hunde, wie Zuschauer*innen haptisch-taktil in das Aufführungsgeschehen und den fiktiven Mikrokosmos involviert werden. Im Zentrum steht dabei die polyperspektivische Betrachtung von Szenen und Situationen körperlichen Berührens, Berührt-Werdens und Ausgesetzt-Seins. Zum immersiven Aufführungsdispositiv gehört, dass sich Zuschauer*innen und Darsteller*innen gemeinsam den Aufführungsraum teilen. Gerade die Option, nicht nur die Materialität des Raums und aller sich in ihm befindlichen Gegenstände, sondern potentiell auch die Darsteller*innen aufgrund der physischen Nähe ertasten zu können, markiert gegenüber dem klassischen Theaterdispositiv zugleich auch eine andere Form des Weltzugangs.

In jüngster Zeit sind in den Gegenwartskünsten vermehrt partizipative Formate zu beobachten, die gezielt auf die Aktivierung des Tastsinns setzen und sich damit in den in Kapitel 2.1.3 beschriebenen Trend zur sensorischen Eroberung des affektiven Körpers der Rezipierenden einschreiben. So finden immer häufiger Projekte der bildenden, darstellenden oder performativen Künste in kompletter Dunkelheit statt. Dabei werden die Zuschauer*innen entweder in lichtlose, verdunkelte Räume geführt oder ihnen wird durch die Verwendung von Brillen, Augenbinden oder der Bitte, selbstständig die Augen zu schließen, temporär ihr Sehsinn genommen.216 Neben einer Intensivierung der auditiven Dimension verschiebt sich der Fokus damit auf zwischenmenschliche Berührungen. Sei es eine Hand, die nach der meinen greift und mich durch den Raum führt, sei es ein anderer Rücken, der sich gegen meinen lehnt, seien es mehrere Körper, die im Dunklen in Kontakt treten. Es liegt nahe, eine mögliche Ursache für die Zunahme solcherart Aufführungs- und Performanceformate gegenwartsdiagnostisch darin zu sehen, dass Kunstformen der Berührung und sinneswahrnehmungsbezogenen Zusammenkunft das erfahrungsmäßige Gegenstück zu einem Alltag bilden, der sich durch zunehmende Digitalisierung und Entmaterialisierung privater und beruflicher Kommunikationsprozesse auszeichnet (vgl. Schmid, 2019, S. 8f.).

Eine Berührung ist sinnesphysiologisch in erster Linie mit dem Tastsinn verbunden. In zwischenmenschlichen Begegnungen bildet die Haut als »größte Kontaktzone zur Außenwelt« (Harrasser, 2017, S. 7) das Primärmedium der Berührung wie auch des Berührt-Werdens. Der Nahsinn des Tastens ist damit auf eine Weise auch der »sozialste Sinn« (Di Benedetto, 2010, S. 69), insofern er Körper vermittels sozial-relationaler »Tastereignisse« (Fritz-Hoffmann, 2017, S. 45) wie z. B. einer Berührung miteinander verbindet und in Beziehung setzt. In der Berührung fallen eigenleibliches Spüren des Berührt-Werdens und Spüren des ›Fremd‹-Körpers auf fundamentale Weise zusammen (vgl. Böhme, 1996, S. 204). Berührungen können zum einen als bestimmte Tastereignisse in einem praktischen Handlungszusammenhang als sozial und kulturell markiert erscheinen und mit Bedeutung aufgeladen sein (vgl. Fritz-Hoffmann, 2017, S. 45), sie können zum anderen aber auch als amodale Affektereignisse in den Blick kommen, die Körper in verschiedenen Konfigurationen von Relation und Differenz überhaupt erst hervorbringen (vgl. Egert, 2016, S. 12).

Während Theater- und vor allem auch Museumsbesucher*innen in unserem ›westlichen‹ Kontext mit einem strikten Berührungsverbot von künstlerischen Artefakten sozialisiert und erzogen werden (vgl. u. a. Kolesch, 2010, S. 227) und sich darin nicht zuletzt das spezifisch historisch formierte Primat einer Erkenntnisgenerierung über den privilegierten Weg visueller Betrachtung manifestiert, wird dieses im Körper sedimentierte Wissen von immersivem Theater systematisch unterlaufen. SIGNAs Wir Hunde lädt seine Zuschauer*innen ein, die Lebenswelt der Mitglieder des fiktiven Vereins »Canis Humanus e.V.« aus nächster Nähe kennenzulernen. Berührungen tragen dabei maßgeblich zur Involvierung des Publikums bei. Bei Wir Hunde sind es ritualisierte Berührungen wie Gesten einer Umarmung oder eines Handschlags, unvermittelte, zuweilen auch übergriffige Berührungen, kompromittierende Berührungsangebote oder gewaltsame Berührungen, die die teilnehmenden Zuschauer*innen physisch einbeziehen und vereinnahmen können.

Es scheint mir nicht zufällig zu sein, dass es gerade im Vergleich zu anderen SIGNA-Arbeiten just in Wir Hunde in einem derart hohen Maß zu vornehmlich ungefragten Berührungen zwischen Darsteller*innen und Zuschauer*innen kommt. Schließlich geht es der Inszenierung vor allem um die Begegnung mit »Hundschen«. Dabei handelt es sich um eine fiktive Transspezies, um Hunde im Menschenkörper, um Wesen, die alle körperlichen Merkmale eines Menschen aufweisen, sich aber ›hündisch‹ verhalten. An Wir Hunde lässt sich studieren, wie verschiedene Körper, die mit etwas Unbekanntem wie der fiktiven Transspezies in Berührung kommen, versuchen, in situ mit dieser umzugehen, sie be-greifen zu lernen. Ich möchte zeigen, wie sich an vereinnahmenden Szenen und Situationen des Berührens und Berührt-Werdens der Zusammenhang von Affektivität und Reflexivität aufzeigen lässt. Denn erst die Vereinnahmung, so wird sich in den Ausführungen zeigen, löst situativ von den affektiven Dispositionen der in Rede stehenden Zuschauenden mitbedingt eine bestimmte Re-Aktion aus, die diesen im Moment des verkörperten Ausagieren selbst auffällig und auf diese Weise zum Gegenstand selbstreflexiver Auseinandersetzung werden kann (vgl. Kap. 4.5.1).

Verbalisierte Zuschauer*innen-Erinnerungen zeugen davon, wie schwer es mitunter fällt, jenem unbekannten Phänomen der fiktionalen Transspezies Hundsch affektiv wie kognitiv jenseits der sozial-relational und kulturell eingeübten Verstehens-, Bewertungs- und Empfindungsordnungen, die mit der »anthropologischen Maschine«217 (Agamben, 2003) einer binären Mensch-Tier-Differenzierung verbunden sind, zu begegnen.218 Die leitende These dieses Kapitels ist, dass Wir Hunde dieses anthropozentrische Dilemma seinen Zuschauer*innen insbesondere über die haptisch-taktile Involvierung durch Akte des Berührens und Berührt-Werdens affektiv und reflexiv zugänglich macht. Insbesondere an der Publikumsinvolvierung im Zwinger zeigt sich, wie Zuschauer*innen auf der innerdiegetischen Ebene vom Verein und seiner gewaltsam durchgesetzten Binnendifferenzierung zwischen verschiedenen Hundschen über Berührungsverbote, dem Bezeugen körperlicher und psychischer Gewalt sowie dem Zwang, eine Elektroschockpistole bei sich zu führen, situativ vereinnahmt werden (vgl. Kap. 4.5.2).

Wir Hunde führt mit seinen Interaktionen zwischen Hundschen und Hundschbesitzer*innen, Hundschen und Hundschen sowie Zuschauer*innen und Hundschen vor, welche Weisen des Zusammenlebens von Mensch und Hundsch denkbar sind, und fordert dabei zugleich Besucher*innen heraus, sich zu dem, was sie sehen und miterleben, zu verhalten. Indem die Hundsche für das Zusammenleben als Kinder, Lebensgefährt*innen oder Liebhaber*innen in den Familien erst »abgerichtet« werden müssen und jene, die wie die Wolfshundsche als nicht zähmbar gelten, unter widrigsten Umständen an Ketten im hauseigenen Zwinger lediglich geduldet werden, thematisiert SIGNA mit Wir Hunde einmal mehr komplexe, sozial-relationale Machtasymmetrien, wie sie im Mikrokosmos »Canis Humanus e.V.« in verdichteter Weise zur Aufführung kommen und von involvierten und vereinnahmten Zuschauer*innen im Modus der Komplizenschaft mitgetragen werden.

216 Mir ist dies als Zuschauerin zuletzt in This Variation von Tino Sehgal (Berlin 2015), An Elegy to the Medium of Film von Lundahl & Seitl (Göteborg 2016), Walk, Hands, Eyes von Miriam Lefkowitz (Hannover 2017), Wunderkammer von Carte Blanche (Kopenhagen 2018), Co-Touch von Petrova/Reshetnikova/Shchelkina (Hellerau 2019) sowie Sensuous Governing von Sister’s Hope (Kopenhagen 2018) widerfahren.

217 Der Verweis auf Agambens Das Offene. Der Mensch und das Tier findet sich im Programmheft zu Wir Hunde. Die »anthropozentrischen Maschine«, die Agamben als eine beschreibt, die in der modernen Kultur am Werk sei, basiere auf historisch produzierten Differenzierungen zwischen Mensch und Tier. Vom wesentlichen Differenzkriterium der Sprachbegabung, die dem Menschen zu- und dem Tier abgesprochen wurde, gingen weitere binäre Grenzziehungen von »human/inhuman«, »Ausschließung« und »Einschließung« und damit auch Prozesse der Anerkennung bzw. Nicht-Anerkennung aus (vgl. Agamben, 2003, S. 45ff.). Die anthropologische Maschine produziere damit vor allem auch eines: »ein nacktes Lebens« (ebd., S. 48), das zum Objekt biopolitischer Machtausübung werde.

218 Donna Haraway verweist in ihrem Manifest für Gefährten darauf, dass Hunde nicht nur vom Menschen mithervorgebrachte »Gefährtentiere« (Haraway, 2003, S. 21) seien, sondern auch eine Spezies, die »in obligatorischer, konstitutiver, historischer, wandelbarer Beziehung mit menschlichen Wesen« (ebd., S. 18) stehe. Sie begreift Hund-Mensch-Beziehungen als »emergente Naturkultur« (ebd., S. 61) und damit auch als Form der Verwandtschaft von companion species, in der spezifische Andersheiten miteinander verflochten sind und als solche anerkannt werden müssten.

 

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