Theater der Zeit

Ein Schauspielhaus zwischen Himmel und Meer

200 Jahre Theater Putbus auf Rügen

von Holger Teschke

Erschienen in: „… ein Schauspielhaus zwischen Himmel und Meer …“ – 200 Jahre Theater Putbus auf Rügen (09/2015)

Assoziationen: Theatergeschichte Mecklenburg-Vorpommern Theater Vorpommern (Putbus)

Foto: Holger Herschel
Theater PutbusFoto: Holger Herschel

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Als höfisch-steif, wie Ludwig Sternaux, der Berliner Kritiker und „Reporter des 18. Jahrhunderts“, empfand ich Putbus in meiner Kindheit nie. Eher als einen verwunschenen Ort, aus dem die Fürsten und Prinzessinnen, von denen mir meine Großtante auf unseren Spaziergängen im Park erzählte, wie durch den Fluch einer bösen Fee verschwunden waren, samt Schloss, Equipagen und Dienerschaft. Die Trauerrotbuchen blickten seufzend in das Wasser des Schwanenteichs, die Schwäne glitten lautlos durchs Schilf, und durch das Laub der uralten Eichen strahlten das Weiß der Häuser am Markt, der Fürstenhof und das Theater.

Wir kamen, um das Damwild im Wildgehege zu füttern und anschließend im Rosencafé Kaffee zu trinken. Meine Großtante erzählte dann aus den Tagen ihrer Kindheit, als das Schloss noch am Schwanenteich gestanden hatte und auch die Habenichtse am Sonntag in dem weitläufigen Landschaftspark flanieren durften. Aber dann waren die Nazis an die Macht gekommen und hatten den Herrn zu Putbus abgeholt und im KZ Sachsenhausen umgebracht und nach den Nazis die Kommunisten, die einen Rochus auf alle Adligen hatten, wie meine Tante sagte, und keinen Sinn für das Schöne. Sie hatten das Schloss erst eingerissen, um es angeblich schöner wiederaufzubauen, was nur ein Vorwand gewesen sei, um es ganz abzureißen und mit seinen Steinen die Straßen und Wege der Insel zu pflastern. Die Möbel und Bilder, das Tafelsilber und das kostbare Geschirr sollen sie bei Nacht und Nebel in die eigenen Wohnungen geschleppt und verhökert haben und dann, um zum Schaden den Spott zu fügen, ließen sie in den Obelisken am Circus, der an die Gründung des Ortes durch den Fürsten erinnerte, den Spruch einmeißeln: „Was des Volkes Hände schaffen, ist des Volkes eigen.“

Am Ende sagte meine Großtante jedes Mal voller Zorn: „Wegger so wat Scheunet kaputtmaken det, de hürt sülwst inne Luft jogt!“ „Nu reeg di blots nich up“, flüsterte dann mein Großonkel beschwichtigend und sah sich um, ob auch niemand zugehört hatte. So erfuhr ich, dass auch unter der geblümten Bluse einer älteren Tante ein flammendes Anarchistenherz schlagen konnte.

Nach der Kaffeetafel gab es oft noch einen Spaziergang durch den Park, vorbei an den Mammutbäumen und Zypressen und durch die Kastanienallee bis zum Denkmal des Fürsten.

Wie ein steinerner Gast aus der Vergangenheit blickte er schwermütig über die Wiese hinweg auf sein verschwundenes Schloss und die zerfallende Pergola. Ich bewunderte seine Orden und den Säbel aus weißem Marmor und fragte mich, wer wohl die Männer und Frauen sein mochten, die zu seinen Füßen versammelt waren. Hinter dem Schwanenteich kamen wir am Kriegerdenkmal vorbei, einer Totenburg aus grauem Granit, die wie eine Festung aussah und über deren Rundbögen die schmiedeeisernen Zahlen 1914 und 1918 eingelassen waren. In ihrer Mitte erhob sich ein massiver Granitblock, in den ein Kreuz eingemeißelt war und auf dem ein steinerner Stahlhelm ruhte. Eiserne Kreuze flankierten die vier Rundbögen, und manchmal hingen an den schwarzen Haken kleine Blumensträuße. Die meisten anderen Kriegerdenkmäler der Insel waren entweder abgerissen oder mit sozialistischen Parolen umstellt: „Ob Regen, ob Sonnenschein – die Ernte muss doch herein!“

Ich habe mich später oft gefragt, warum die Parteifunktionäre diese Trutzburg des Militarismus nicht geschleift hatten. Vielleicht glaubten sie, mit dem Abriss des Schlosses ihren „Klassenauftrag“ erfüllt zu haben. Vielleicht fürchteten sie auch den Unmut der Bevölkerung, von denen viele die Kriegergräber in Frankreich oder Belgien nicht mehr besuchen konnten und hier im Park einen Ort des letzten Eingedenkens gefunden hatten. Es war die seltsam feierliche und bedrohliche Stimmung, die mich zum ersten Mal nach seiner Bedeutung fragen ließ. So hörte ich im Park zu Putbus vom Ersten Weltkrieg, in dem der Vater meines Großonkels schon im ersten Jahr gefallen war und der zum Zweiten führte, in dem es ihn selber bis nach Russland verschlug und aus dem er wie durch ein Wunder zurückkam.

Das Wunderbarste an Putbus aber war das Theater.

Strahlend weiß schimmerte es durch den Blätterwald des Parks, wenn wir zurück zu unserem Auto am Markt gingen. Beim Näherkommen sah man, dass der Putz an den vier Säulen des Portikus schon bis auf das Mauerwerk abgeblättert war und sich auch Apollo und seine Musen darüber in bedauernswertem Zustand befanden. Doch im Inneren hatte man mit viel Goldbronze und Samt versucht, die alte Pracht wiederherzustellen. Meine Mutter liebte die Operette ebenso wie das Schauspiel und hatte in jungen Jahren davon geträumt, selbst auf der Bühne zu stehen. Zu Hause besaßen wir eine ansehnliche Plattensammlung, von „Figaros Hochzeit“ bis zum „Weißen Rößl“, und beim Kochen sang meine Mutter begeistert die Arien und Couplets mit. Wenn mein Vater auf See war, durfte ich mit ins Theater. Meine Mutter hatte mir extra einen grauen Anzug schneidern lassen und dazu ein blütenweißes Hemd mit Fliege und schwarze Lackschuhe gekauft. Ich kam mir darin sehr erwachsen vor und war vom Glanz des Kronleuchters, den goldverzierten Rängen und dem schweren roten Samtvorhang bei jedem Besuch wie verzaubert.

Aber all das verblasste, sobald das Licht verlosch, der Vorhang sich langsam öffnete und den Blick freigab auf das Schloss des Grafen Almaviva, das Schlafzimmer der schönen Helena oder die Haremsgärten von Bachtschissarai. Plötzlich weitete sich der Blick in eine Welt, in der ein romantischer Dichter sich in eine mechanische Puppe verliebte und mit ihr bis zum Zusammenbruch tanzte, ein verkrüppelter Hofnarr zum Opfer einer grausamen Intrige wurde und alle Sterbenden sangen, als ob der Tod für sie keinen Stachel mehr trug. Ich verlor mein Herz an das Theater – sehr zum Ärger meines Vaters, der einen Seemann aus mir machen wollte. Ich erinnere mich noch genau an die Vorstellung, in der das geschah. Die Plattdütsch Späldäl aus Schwerin gab Sean O’Caseys „Das Ende vom Anfang“ und „Ein Pfund abheben“ nach der Übersetzung von Adolf Dresen und Michael Hamburger. Schon nach wenigen Dialogen in irischem Plattdeutsch erfüllte Gelächter den Zuschauerraum und hörte nicht auf, bis die fröhliche Anarchie ihren Höhepunkt erreichte und der Vorhang fiel. Die Darsteller verbeugten sich in einen donnernden Schlussapplaus, und ich hatte gelernt, dass auch arme Schlucker zu Helden werden können. Ich wollte zu dieser phantastischen Gemeinschaft gehören, die aus ein paar bemalten Brettern eine fremde und ferne Welt bauen und darin den ganzen Jammer der Menschheit zeigen und weglachen konnte. Das Theater Putbus erschien mir, wie schon Erasmus Gotter in Gerhart Hauptmanns Roman „Im Wirbel der Berufung“ schwärmte, „ein Schauspielhaus zwischen Himmel und Meer“ zu sein.

Selbst in den Jahren der Pubertät, als wir neben den verordneten Revolutionsfilmen aus den Mosfilm-Studios die Welt von Hollywood entdeckten und uns in den Sassnitzer Stubnitz-Lichtspielen für „Blutige Erdbeeren“ und „Die Unbestechlichen“ begeisterten, verschwand diese Faszination nicht. Vor der Jugendweihe wurden wir einmal im Monat mit dem Theaterbus nach Putbus gefahren. Die Mädchen unserer Klasse verwandelten sich am Abend aus Aschenputteln in Jeans und Rollkragen - pullovern in Prinzessinnen in atemberaubenden Kleidern und betörenden Duftwolken. Ich gebe zu, dass es mir damals schwerfiel, den Zweifeln Hamlets oder den Leiden der Luise Miller die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, aber eines war klar: An einem Ort, an dem solche Verzauberung geschah, wollte ich arbeiten und leben. Natürlich am liebsten auf der Bühne, im Scheinwerferlicht und umtost vom Applaus eines immer wieder begeisterten Publikums.

Ich fuhr dann doch zur See, und später bewahrten mich Probenbesuche in verschiedenen Theatern, in denen stümperhafte Regisseure die ihnen ausgelieferten Darsteller zusammenbrüllten, vor einer Schauspielerkarriere. Ich schwor mir während meines Studiums, niemals in solche Abgründe zu fallen, was mir leider nicht immer ge - lang. Dennoch arbeite ich seit 35 Jahren noch immer am Theater. Trotz aller Versuche aus allen politisch korrekten Lagern, die einzigartige Institution des deutschen Stadttheaters in ein Affen- und Tollhaus zu verwandeln, um es endlich abschaffen zu können, hat es für mich nichts von seinem Zauber verloren. Theater ist noch immer, wie George Tabori einmal gesagt hat, der schönste Puff der Welt. Wenn ich nach Rügen fahre und im Putbusser Thea - ter sitze, kommen nicht nur die Erinnerungen an meine Kindheit zurück. Auch die Magie der Bühne leuchtet wieder auf, die in ihren besten Augenblicken zeigt, dass es eben doch Alternativen zum Irrsinn unserer Welt gibt. Wir haben nach 1989 wider besseres Wissen zugelassen, dass Geld zum Gott und wirtschaftliches Wachstum zum Maß aller Dinge geworden ist. Nun sollten wir nicht auch noch den Auftrag verraten, den Uwe Johnson in „Vorschläge zur Prüfung eines Romans“ auf den Satz gebracht hat: „Es ist eine Welt, gegen die Welt zu halten.“

Momentan sind wieder einmal, wie nach Shakespeares Tod, fanatische Ideologen am Werk. Es sieht alles danach aus, als ob sie sich durchsetzen und die Schauspielhäuser wieder für ein Jahrhundert schließen müssen. Aber die 200-jährige Geschichte des Theaters zu Putbus ist ein leuchtendes Beispiel, das Hoffnung auf eine Zukunft jenseits der Märkte macht.

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