Visualisieren
Erschienen in: Lektionen 8: Neue Dramatik (10/2025)
I
Deutschsprachige Theatertexte des frühen 21. Jahrhunderts zeichnen sich durch ein eigenwilliges Verhältnis zu ihrer Visualisierung aus: Als „unmögliche[s] Theater“1, wie Wolfram Lotz es in einem Manifest von 2009 genannt hat, evozieren diese für die Theaterpraxis geschriebenen Texte oft Bilder und Vorstellungen, die über ihre Inszenierbarkeit im dreidimensionalen szenischen Raum hinausgehen oder sich ihr gegenüber widerspenstig verhalten. So beginnt Nino Haratischwilis Kinder- und Jugendstück Löwenherzen (2020) mit einer die Kapazitäten der meisten real existierenden Bühnen zwar überfordernden, aber letztlich konventionellen Regiebemerkung: „Eine große Zirkusarena. In der Mitte ein Scheinwerfer. Es regnet Konfetti. Man hört Trommeln. Von der Decke schwebt ein kleiner Zauberer herab. Er trägt Frack und Zylinder. Das Getrommel wird lauter und intensiver.“ In die kinematische Beschreibung mischt sich dann plötzlich eine dem Publikum beziehungsweise den Lesenden untergeschobene, das Visuelle mit dem Affektiven verdichtende Rezeptionserfahrung: „Der Zauberer betritt die Arena, und unsere Erwartungen platzen wie bunte Luftballons und regnen wie Luftschlangen auf uns herab …“2 Es zeigt sich, dass der Zirkus nur in einer Traumvorstellung existiert. Publikum und Lesende sollen gleichzeitig enttäuscht werden (mit den platzenden Luftballons als gängigem Bild für das Gefühl frustrierter Erwartungen) – und immersiv in den Phantasiezirkus hineingezogen (mit dem sämtliche Erwartungen...