Liminale Ästhetik/Aisthesis: Die Vreemdeling
von Julius Heinicke
Erschienen in: Recherchen 148: Sorge um das Offene – Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater (05/2019)
Matthias Warstat weist in seiner Habilitationsschrift Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters (2010) darauf hin, dass die dichotome symbolische Ordnung des Abendlandes bereits von amerikanischen „feministisch orientierten Performerinnen“, aber auch in Artauds Theater der Grausamkeit hinterfragt und dekonstruiert wurden:
Wenn die scheinbare Distanz zwischen Täter und Opfer, Mensch und Tier, Freund und Feind, Liebe und Hass plötzlich aufgehoben wird, geraten die wahrnehmenden Subjekte in die bedrohliche Lage, sich neu orientieren und stabilisieren zu müssen. […] Die Gleichsetzung und sogar Identität von Signifikant und Signifikat, Körper und Sinn, Material und Bedeutung, die Artaud für seine neue Theatersprache anstrebte, wirkt deshalb so verunsichernd, weil auch sie einen Kollaps tief verwurzelter Oppositionen westlicher Kultur mit sich bringt.52
Der Strategie der Verunsicherung innerhalb der Aufführung widmet sich auch Erika Fischer-Lichte und zeigt, wie ästhetische Erfahrung heutzutage den Zuschauenden in Sphären von Liminalität zu leiten vermag:
An der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert liegen völlig andere Bedingungen vor. In Zeiten einer ständig weiter um sich greifenden Ästhetisierung der Lebenswelt, unter den Bedingungen einer Spaß- und Eventkultur stellt „uninteressiertes und freies Wohlgefallen“ ganz sicher nicht die geeignete Empfindung dar, um das Subjekt in einen Schwellenzustand zu versetzen. Dazu bedarf es der Aufstörung sowohl der...