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Die Sprachströme des Valère Novarina
Valère Novarina: Die Rede an die Tiere. Übersetzt von Leopold von Verschuer, Matthes & Seitz, Berlin, 2017, 98 S., 12,00 EUR.
von Tom Mustroph
Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)
Ein Mann geht über den Friedhof. Er betrachtet die Gräber. Worte fallen aus ihm heraus. Rätselhafte Worte. „Dem Tier der Zeit“ etwa. Oder „Dem Hunde, welcher“. Nicht zu entscheiden ist, ob diese Worte, diese Widmungen dem Innern des Mannes entweichen, ob er sie auf den Gräbern liest oder ob diese direkt zu ihm sprechen.
Bei Valère Novarina, dem Autor des Theatermonologs „Die Rede an die Tiere“, der gerade in deutscher Übersetzung im Verlag Matthes & Seitz erschienen ist, bleibt die Sprecherinstanz oft unklar. Worte fügen sich bei ihm zu Klumpen, bilden thematische Reihen und Schleifen. „Hier ruhte, wird geruht und würde werden, geruht er hier zu sein, in Würde Hans von Pisten, tiefer Radler, welcher überschlug“ ist eine dieser Schleifen, aus denen Worte wuchern, klangverwandt und sinnverwandt, doch immer wieder wegmäandernd.
Zuweilen entstehen Aphorismen wie: „Was immer der Mensch durch den Menschen schreibt, ist gefälscht, sogar diese Inschrift inbegriffen.“ Das sind Knotenpunkte der Wortstrickmaschine, die Novarina anwirft und in langen Zyklen arbeiten lässt. Der in der französischen Schweiz aufgewachsene und dem Landleben weiter verbundene Künstler beschrieb seine Arbeit einst selbst als einen unendlichen Prozess: „Ich muss durch etwas hindurch, jedes Mal mit einer Art Regel wie zum Beispiel, dass ich kein Wort streichen darf. Ich darf immer weiterentwickeln, aber nichts streichen.“ Bei der „Rede an die Tiere“ gab er sich folgende Regel: „In der Bibel dürfen Lots Töchter sich nicht umdrehen, sonst werden sie zu Salzsäulen, und ich, ich durfte nicht zurückschauen auf das, was ich am Tag vorher oder vor einem Monat geschrieben hatte. Ich musste immer fortschreiten, ich ging voran im Text, schrieb ihn ein erstes Mal, schrieb ihn ein zweites Mal, der Text verdoppelte sich, wucherte.“
Hinzu kommt bei ihm eine Physikalität, eine Sinnlichkeit der Sprache, die sich erst im lauten Lesen voll entfaltet und die ihre Kraft aus der Beobachtung von Mensch und Tier, vom Animalisch-Sein hernimmt. Acht Buchseiten füllt er gar mit Vogelnamen: Amfüse und Binsling, Irrlich, Pimp und Uspel sowie Zeterhupf und Glimpfling – Namen, die für sich sprechen, die Bilder entwerfen und in einen noch nicht gedachten Raum vordringen.
Wegen der Plastizität von Novarinas Sprache, die der Regisseur und Übersetzer und überhaupt Novarina-Entdecker Leopold von Verschuer kongenial ins Deutsche übertragen hat, durfte man gespannt sein auf die Hörspielfassung der „Rede an die Tiere“ mit Jens Harzer, die fast zeitgleich mit der Buchveröffentlichung vom Deutschlandfunk gesendet wurde. Die Sprecherinstanzen zerfallen in Harzers Interpretation in mehrere Stimmen. Echoräume entstehen. Aber leider wird die Sprache zu gediegen, zu handwerklich verkunstet vorgetragen; mehr Rauheit, mehr Exzentrik wären besser gewesen. Immerhin wird mit Buch und Hörspiel der in Frankreich bereits einen Kultstatus genießende Autor auf dem deutschen Markt bekannter gemacht. Eine Einladung zur Entdeckung. //