Erkennen
von Ramona Mosse
Erschienen in: Lektionen 8: Neue Dramatik (10/2025)
Theater ist ein Ort der Gespenster. Das weiß schon Orest in Aischylos‘ Tragödie, der gejagt wird von den Furien, die ihn, vom Geist seiner Mutter Klytämnestra aufgehetzt, erbarmungslos verfolgen. Ebenso stehen aber Gespenster auch im Zentrum der Definition von Dramatik im 20. Jahrhundert, wenn Heiner Müller vom Drama als „Totenbeschwörung“ und einem „Dialog mit den Toten“1 spricht, während es in seinen eigenen Theatertexten von „Phantomen, Geistern, Engeln, Untoten, Wiedergängern und gespenstischen Gestalten nur so wimmelt“2. Mit Müllers Werk vollzieht sich gleichzeitig ein Bruch, denn sein Werk ist sowohl Beispiel für eine dezidierte Auseinandersetzung mit dramatischer Form und dem westlichen Kanon – von der griechischen Tragödie über Shakespeare bis zu Brecht – als auch für dessen Zäsur, und Sinnbild einer postdramatischen Implosion eines handlungs- und figurenbasierten Dramas. Bei Müller wird das Drama selbst zum Gespenst. Im Umkehrschritt sind Gespenster die ältesten Formen nicht-menschlichen Erscheinens im Theater, und um das Erkennen von und die Präsenz dieser nicht-menschlichen Dimensionen in der Gegenwartsdramatik soll es in diesem Beitrag gehen.
Ist dieser Band der Versuch der Skizzierung von und Begegnung mit einer neuen Dramatik des 21. Jahrhunderts und deren neuen Darstellungsformen, so nimmt die Frage, welche Gespenster in diesen Theatertexten umgehen, eine...