Theater der Zeit

Schauspiel Stuttgart: Wenn die Welt ins Wanken gerät

„Die Rache ist mein“ von Marie NDiaye (UA Bühnenfassung) – Regie Annalisa Engheben, Bühne Andrej Rutar, Kostüm Ines Burisch

von Otto Paul Burkhardt

Assoziationen: Baden-Württemberg Theaterkritiken Marie NDiaye Schauspiel Stuttgart

Therese Dörr und Celina Rongen in „Die Rache ist mein“, in der Regie von Annalisa Engheben Foto: Björn Klein
Therese Dörr und Celina Rongen in „Die Rache ist mein“, in der Regie von Annalisa EnghebenFoto: Björn Klein

Anzeige

Anzeige

Hier ist alles in der Schwebe. Wir blicken auf ein Metallgestänge aus angedeuteten Türrahmen, Torbögen, Treppen – doch das alles ist nicht fest im Boden eingepflockt, sondern baumelt wie ein riesiges Mobile an Seilen hängend von der Decke herab. Nichts ist fix, alles schwankt ständig hin und her. Bei der geringsten Berührung gerät der ganze Stangenwald ins Schlingern. Nicht schlecht, dieses sprechende Bühnenbild von Andrej Rutar – denn die hier erzählte Geschichte ist voller Ungewissheiten, entführt uns in ein bizarres Labyrinth von Wünschen, Ängsten und Projektionen. Eine 42-jährige Anwältin, Maître Susane, glaubt in ihrem neuen Mandanten Gilles Principaux just jenen Jugendlichen wiederzuerkennen, mit dem sie einst als zehnjähriges Mädchen Unvergessliches erlebt hat – was genau allerdings, ob Schreckliches oder Wunderbares, bleibt im Unklaren. Ein Thriller? Vielleicht, doch ohne Action. Stattdessen finden wir uns wieder in einem flirrenden Netz von vagen Reflexionen, das die französisch-senegalesische Autorin Marie NDiaye in ihrem Roman „Die Rache ist mein“ (2021) ausbreitet. Selbst die Grundfrage, wer sich hier eigentlich an wem rächt, bleibt offen. Ein Fall für die Bühne? Das Schauspiel Stuttgart zeigt das 230-Seiten-Werk nun jedenfalls in einer uraufgeführten Theateradaption von Carolin Losch und Annalisa Engheben, die auch Regie führt. Ein Dutzend Romane hat NDiaye bisher vorgelegt, für „Drei starke Frauen“, 2013 dann von Friederike Heller in Hamburg dramatisiert, erhielt sie 2009 Frankreichs renommiertesten Literaturpreis, den Prix Goncourt.

Jetzt also ein weiterer Transferversuch auf die Bühne mit „Die Rache ist mein“: Das, was die Autorin da entfaltet, ließe sich auch als raffinierter Schauerroman bezeichnen. Denn der Mandant, der in der Anwältin offenbar frühe Tabus und Phantasien wieder aufwühlt, braucht ihren Rechtsbeistand, weil seine Frau Marlyne Principaux die drei gemeinsamen Kinder ertränkt hat – eine Medea-Wiedergängerin, die das Ganze noch mit einer Prise archaischer Tragik auflädt. Die selbst aus armen Verhältnissen stammende, sozial engagierte Anwältin beschäftigt zudem eine „illegale“ maurizische Migrantin als Haushaltshilfe. Und diese, Sharon, begegnet ihrer Arbeitgeberin und Wohltäterin mit gemischten Gefühlen, mit dankbarer Zuneigung, aber auch mit latenter Verachtung. Kurz, NDiaye, die unter dem Eindruck der Sarkozy-Wahl für zehn Jahre nach Berlin zog und inzwischen wieder in Frankreich lebt, hat da eine ganze Menge brodelnder Themen ineinander verwoben und zeichnet hinter dem Thriller-Plot ein tiefenscharf schillerndes Porträt der französischen Gesellschaft – mit sozialen Kluften, postkolonialen Verwerfungen und fatalen Abgründen. Ein Porträt freilich, das Gewissheiten und Schuldzuweisungen vermeidet, das eher Fragen stellt als Antworten verordnet.

Die auf knapp zwei Stunden eingedampfte Theaterfassung, die den Romantext auf vier Schauspielende verteilt, kann dies alles auf der Bühne nur punktuell anreißen. Ohne Vorwissen ist es schwierig, den vielfach verschränkten Verwicklungen zu folgen. Die Inszenierung wirkt denn auch streckenweise wie eine szenische Lesung, in deren Verlauf die Agierenden den Roman, sprich: das Psycholabyrinth der hängenden Metallstangen, kletternd und hangelnd erkunden, um wenigstens temporär dort irgendwo ein schwankendes, absturzgefährdetes Interim-Plätzchen erklimmen zu können. Doch andererseits trifft Annalisa Enghebens Inszenierung, als permanente Suche nach Halt in diesem unsicher schwebenden Sozialdschungel, den ständig zweifelnden, fragenden Tonfall des Romans atmosphärisch sehr genau. Auch in Enghebens Regie sprechen die Personen fast nie in direkter Rede miteinander. Stattdessen dominieren wie im Roman Projektionen, Vermutungen, Phantasien – im Grunde Monologe: Auch das ist ein vielsagender Befund des Romans, der in Stuttgart als soziale Pathologiestudie lesbar wird. Obwohl durch die Vagheiten des Textes auch erinnerte Fragmente von Gewalt, Missbrauch, Mord und Vernichtung geistern, macht Engheben nie den Fehler, um der Dramatik willen, die Schwebe dieses Netzes an gegenseitigen Mutmaßungen zugunsten scheinbarer Eindeutigkeiten aufzugeben.

Für intensive Rollenporträts lässt der ständig alles hinterfragende Sog des Romans, heruntergebrochen auf die Bühne, nicht viel Raum. Es gibt Momente, in denen Engheben es schafft, den Figuren so etwas wie Dringlichkeit zu verleihen  so, wenn Therese Dörrs Anwältin Maître Susane obsessiv um das von ihr schützend tabuisierte Erlebnis mit dem jungen Gilles Principaux kreist oder wenn Larissa Aimée Breidbachs Sharon zwischen sozialer Scham und Self-Empowerment schwankt. Intensität vermitteln die differenzierten, klischeefernen Selbstreflexionen des Paares Principaux, sowohl von Peer Oscar Musinowskis Gilles wie auch von Celina Rongens Marlyne, deren zwanghaftes Beziehungsglück zerbröselt. So gerät Rongens Marlyne beim Vergegenwärtigen ihrer Mordtat – das älteste Kind heißt, wie Medeas fremdgehender Gatte, Jason – in ein existenzielles, den ganzen Körper ergreifendes Zittern. Die Kostüme? Während das Kleid der Anwältin wie ein Panzer anmutet, wirkt ihr Mandant im Karo- und Fransenlook wie ein seltsamer Harlekin. Trotz textfreier Intermezzi – in Form von Kurzsprints und traumartigen Still-Phasen – entwickelt der dauerreflektierende Vermutungstonfall auf der Bühne doch einige Längen. Vielsagend dagegen setzt die Regie einen endlos langen roten Schal ein, der, je nachdem, als Blutspur des Kolonialismus, als erstickende Bürde, aber auch als solidarisch verbindendes Band zwischen den drei Frauen und als Ariadnefaden im Irrgarten der Ungewissheiten deutbar wird. Kurz, das Theater kann diesen Text, der reflektierend um soziale Selbstzweifel, psychische Obsessionen und koloniale Traumata kreist, im Nacherzählmodus nur schlaglichtartig neu beleuchten. Was bleibt, ist der Versuch, einen nicht unbedingt bühnentauglichen Roman ohne wohlfeile Preisgabe seiner Geheimnisse atmosphärisch sensibel zu erkunden.

Erschienen am 15.3.2023

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Theater unser"
"Pledge and Play"