Theater der Zeit

Auftritt

von Friederike Felbeck

Erschienen in: Theater der Zeit: Frontmann Hamlet – Der Dresdner Musiker-Schauspieler Christian Friedel (03/2013)

Assoziationen: Schauspiel Essen

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Die Tanzschule Hauswächter liegt zwischen Seniorenheim und Einlagerungshalle, unweit eines der Insolvenz entkommenen Wienerwald- Restaurants. Die Farbe an den Wänden ist verblichen, die Lüftungsrohre hängen schmutzig unter der Decke. Aber wenn die Glitzerkugel Schwung aufnimmt, die staubschweren Vorhänge vor den Spiegeln zurückgezogen werden und die Lampen blubbernde Farbkleckse auf die Wand werfen, ist noch einmal etwas von dem früheren Glanz da.

Eine Geburtstagsfeier wird mit Torte und Punsch bereitet. Der fesche Tanzlehrer, der obszön sein Becken schwingt, hat einer der halbwüchsigen Töchter einen Eintänzer zum Geschenk gemacht und beobachtet gierig, ob der es zum ersten Kuss bei seiner jungfräulichen Tochter bringt. So unangenehm der selbstverliebte Hecht auch ist, wie er an den Töchtern herumgrabscht und der Mutter mal eben etwas reinstecken will, so zärtlich gerät ihm – schön scharf und unverkennbar gespielt von Tom Gerber – sein Wolfsrudelführergeheul, wenn er seine Familie im Arm hält. Kein Wunder, dass sie ihm sein penetrantes Solo zu Rod Stewarts „Da ya think I’m sexy?“, das hinter dem Tresen hervorscheppert, verzeihen. Die Mutter der Kompanie (Bettina Schmidt) macht ihrem Namen Gay alle Ehre und tänzelt immer fröhlich und sehr liebevoll zwischen den beiden Töchtern und dem Platzhirsch mit Pomadenfrisur hin und her, dessen einzige Heldentat vor langer Zeit ein romantischer Heiratsantrag vor der anerkennend applaudierenden Gästeschar eines Feinschmeckerlokals war.

Man weiß nicht, was man hat, bis man es verliert. Die beiden Töchter Woden und Mimi, zwischen Gegenwart und Rückblende einprägsam konturiert von Floriane Kleinpaß und Silvia Weiskopf, sind längst verwaist. Sie haben die Ballerinas gegen Springerstiefel getauscht, die po-langen Haare sind Kahlheit gewichen, ihre Stimmen sind zwei Oktaven tiefer und die Gesten jederzeit zum Nahkampf bereit. Die Eltern liegen in braunen Plastiktüten mumifiziert auf dem Boden. Draußen herrscht Krieg. Ein junger Deserteur schleicht sich in ihr Versteck und wird von ihnen zu abstrusen Rollenspielen rekrutiert, die immer wieder um das verlorene Familienidyll und die eigene gekappte Biografie kreisen. Witze erzählen, dazu synchrones Stammtischlachen, imaginäre Limousinenfahrten zum ersten Date und ein gemeinsames Abendessen mit toter Taube und Eigenblut- Make-up vergraulen den jungen Hal (Jörg Malchow). Immer wieder rekonstruieren die beiden Mädchen den Tod ihrer Eltern: Mitten in die bunte Geburtstagsfeier stürmte ein mit Strumpfhose maskierter Killer, Magnum in der Rechten, und richtete zuerst die Mutter, dann den Vater hin: „Das ist für alle die, die du getötet hast.“

Der amerikanische Dramatiker Noah Haidle erklärt nichts. Er schafft eine Parabel, die gruselig anzuschauen ist und einem an die Nieren geht. Nur ein Jahr soll zwischen dem rohen, unzivilisierten Heute und den fröhlichen Familientagen vergangen sein. Der Regisseur Thomas Krupa bindet Haidles Stück zu Unrecht fest. Zu naheliegend war es wohl, die Probebühne des Schauspiels Essen – eine ehemalige Tanzschule – zum Spielort für diese Uraufführung zu machen. So ermatten die kräftig ausagierten Szenen vor dem allzu eindeutigen Hintergrund. Die beiden Zeitebenen verknüpft Krupa durch einen ebenso einfachen wie wirksamen Effekt: In einem Tunnel aus Nebel verschwindet Momente lang der abgehalfterte Tanzsaal im Gegenlicht. Die Figuren tanzen als Schattenrisse durch ihre eigene Geschichte, begleitet von den aufmunternden musikalischen Clustern von Mark Polscher. Nur der demente Großvater (Heiner Stadelmann), eingangs ein wirrer Lear mit Krone, Windel und offenem Bademantel, auf dem die Inkontinenz ihre Spuren hinterlassen hat, bleibt konstant: Sich nicht mehr zu erinnern ist in dieser Welt ein Segen. Und so singt er den Schwestern am Ende ein Schlaflied, den Skin Deep Song. „Das ist das Ende“, waren die letzten Worte des Vaters, nach denen die Schwestern in ihren Spielen immer gesucht haben. Jetzt sind sie selbst da angekommen. //

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