Theater der Zeit

Essay

„Play to the Camera”

Konstellationen von Gewalt und Publikum im „global war on terror“

Bilder realer Gewaltszenarien wirken nicht nur in den globalisierten Mediengesellschaften, sondern auch zurück auf die intimen Gewalträume, denen sie entstammen. Im „global war on terror“, genauer in Guantánamo und den US-amerikanischen Geheimgefängnissen, zeigen und speichern allgegenwärtige Videokameras die Vernehmungen, Folterungen und das Alltagsleben. Die daraus entstehenden Publikumssituationen können unterschiedliche Effekte zeitigen: von der Verschärfung der Gewalt, über den waffenförmigen Einsatz der Bilder bis hin zur widerständigen Aneignung.

von Sebastian Köthe

Erschienen in: double 39: Gewalt spielen (04/2019)

Assoziationen: Nordamerika

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Obwohl sie in Schiffen auf internationalen Gewässern, unzugänglichen Inselteilen oder getarnten Warenhäusern jenseits der Öffentlichkeit stattfinden, vollziehen sich die extremsten Ausgestaltungen gegenwärtiger Gewalt dennoch vor Zuschauer*innen. Im sogenannten „global war on terror“, in Guantánamo Bay und den US-amerikanischen Geheimgefängnissen in Afghanistan, Irak, Thailand oder Rumänien, wurde die Folter wahllos verschleppter muslimischer Männer nicht allein durch Zensur, spurenlose Gewalttechniken wie Kälte, Schlafentzug oder Vergewaltigungsdrohungen sowie den daraus resultierenden Traumata verunsichtbart, sondern gleichermaßen zur Vorführung, zum Schauereignis. Wenn Vernehmer*innen und Militärpolizist*innen Gefangene in den Verhörräumen quälen, schauen Vorgesetzte, Politiker*innen oder Psycholog*innen zu: hinter falschen Spiegeln oder durch Echtzeitübertragungen und Aufzeichnungen. Sie sind das erste Publikum der Gewalt und verändern damit die Intensität und Bedeutung der Gewalt – wie auch sie selbst von ihr verändert werden. Während politische Gewalt einerseits destruktiv auf die Täter*innen-Gesellschaften zurückwirkt, das belegen etwa die hohen Sucht- und Suizidraten unter ehemaligen Soldat*innen, ist sie gleichsam in den Worten Philip Gourevitchs „an exercise in community building.“2

Die Rezeption medial und ästhetisch vermittelter politischer Gewalt findet nicht nur in den intimen Räumen der Lager statt, sondern zirkuliert auch über Fotografien, Zeugnisse oder Ermittlungsberichte in den globalen Medienöffentlichkeiten. Dies kann ihrer Aufarbeitung dienen, ebenso aber ihrer terrorisierenden, geostrategischen Effektivität: Bilder und Berichte der Verschleppung, Entrechtung und Qual bestimmter Leiber bedrohen stellvertretend ganze Bevölkerungsgruppen, etwa in Afghanistan, Irak, Wasiristan. Wie werden Gewaltakte durch den Einbezug von Zuschauer*innen ermöglicht und verschärft, was für Gemeinschaften werden durch sie geschaffen? Welche ästhetischen Verfahren und welche Medientechnologien kommen in Berührung mit den extremsten Formen gegenwärtiger Folter? Inwieweit ist die Publikumssituation selbst als Gewalt zu verstehen und wie haben sich die Gefangenen gegen sie zur Wehr gesetzt?

„... laughing about it“

In Guantánamo Bay wurden zwischen 2002 und 2005 alle 24.000 Verhöre auf Video aufgezeichnet.3 Sie wurden von sogenannten „monitoring rooms“ aus live beobachtet sowie im Nachhinein gesichtet und ausgewertet. Die strukturell gewaltsamen Vernehmungen, die etwa auf physischer Gewalt, Schlafentzug und extralegalen Entführungen basierten, wurden nicht nur von mindestens neun unterschiedlichen Militär- und Geheimdiensten wie der CIA, dem FBI oder der Defense Intelligence Agency (DIA) geführt, sondern auch von zivilen Auftragnehmer*innen wie Affiliated Computer Systems, die privatwirtschaftlich agieren und gewinnorientiert Soldat*innen, Analyst*innen oder Venehmer*innen an Regierungsdienste leihen. Mark Denbeaux, Anwalt von Häftlingen Guantánamo Bays und als Direktor der Setton Hall Law School verantwortlich für eine Reihe von Studien zu Guantánamo, führt in seiner Analyse des Überwachungsregimes zwei Schilderungen privater Auftragnehmer*innen an:

„[REDACTED] was yelling questions at the detainee very rapidly, [REDACTED] yelled ‘DOWN.’ The M[ilitary] P[olice]s then pushed the detainee to the floor with enough force to not only shake the camera in the interrogation room, but also in the room that [REDACTED] was conducting his interrogation. He would then yell ‘GET UP,’ and the MPs would jerk the detainee up. Each time the female analyst first heard the word ‘DOWN’ [REDACTED] the analyst stood up to watch this [on the monitor] as it was happening and was laughing about it.“

„Immediately before the detainee was pushed to the floor, [REDACTED …] and the Navy analyst were laughing about the treatment of the detainee…. The force with which the detainee hit the floor was, in my estimation, adequate to cause severe internal injury. I left the monitoring room (…) to call my supervisor and report this incident.“4

Die zuschauenden Kolleg*innen oder Vorgesetzten haben medial vermittelt an der Gewalt teil: Sie werden zu ihrem Publikum. Während ein Einzelner die Schaltstelle der Videobilder verlässt, schauen die anderen lachend zu. Die Anwältin Heather Ceveny hat berichtet, wie sich Wärter*innen abends frivol in den Kneipen Guantánamos austauschen: „The guards all seemed to have a story of how they had abused detainees and got pleasure from punishing them.“5 Die mediale Vermittlung ermöglicht die Vergemeinschaftung durch Gewalt, als durch Gelächter vereintes Publikum, wie auch beim Erzählen brutaler Anekdoten. Mit dem Medienphilosophen Reinhold Görling gesprochen, erlaubt der Einbezug Dritter „in der grausamen Handlung so etwas wie einen Adressaten zu bewahren, um […] das eigene Handeln nicht auf sich selbst beziehen zu müssen. Die Kamera ersetzt gewissermaßen die Selbstreferenzialität der Handlung“.6 Die gleichförmigen Verhöre von bis zu 20 Stunden täglich werden so durch erfinderische oder bloß eskalative Praktiken der Verletzung und Traumatisierung zur Show, inszeniert für den Blick der Kolleg*innen. Davor warnt selbst eine spätere Fassung des Militär-Handbuches für Vernehmer*innen: Überwachungskameras verführten Vernehmer*innen wie Vernommene, „to ‘play to the camera’“7. Die Publikumssituation transformiert Gewalt nicht nur in eine Vorführung, sondern verhindert auch jede offene Geste der Solidarität mit den Entrechteten. Indem die Überwachungskameras jeden Vorgang registrieren, könnte jeder freundliche Blick, jede kleine Gabe und jedes versöhnliche Wort den Verdacht der Kollaboration nach sich ziehen.

„cinema room“

Die mediale Speicherung der Gewalt ermöglicht also einerseits ihre entlastende Adressierung. Andererseits werden ihre Bilder selbst in handhabbare Waffen transformiert. Der Gefangene Samir Moqbel beschrieb wie ihm in „a sort of cinema room“ neben tierpornographischen Videos auch solche der Misshandlung seiner Mitgefangenen gezeigt wurden.8 Die Bilder repräsentieren nicht nur vergangene Gewalttaten, sondern üben auch neue aus: indem sie Moqbel gegenüber als Drohung fungieren und indem sie die Beschämung der Abgebildeten wiederholen. So werden die Gefangenen, die einander erst einmal Fremde waren, aus heterogenen Kultur- und Sprachräumen stammend, gezwungen, wechselseitig in ihre Intimsphären einzudringen, einander als Geschlagene, Beschmutzte, Ohnmächtige zu erleben. Der Zweck dieser Beschämungen scheint mir in der Zerstörung jeglicher Solidarität und Gemeinschaft zwischen ihnen zu liegen. Zugleich führen die Bilder den Kontrast von Handlungsmacht und Entmächtigung vor: Moqbel muss unter Gewaltanwendung sehen, was er nicht sehen will, sein eigener Blick wird gegen ihn gewendet. Zum Sehen gezwungen, wird sein Blick seinem Auge, seinem Leib, seiner Moral entrissen und durch den Zwang der Machthabenden bewegt.

Bilder wirken nicht nur im Mikrokosmos Guantánamo Bays als Agenten der Bedrohung und Beschämung, sondern auch in den globalisierten Mediennetzwerken: Das zeigen die bis heute im Internet zirkulierenden Digitalfotografien aus Abu Ghraib oder auch die ikonischen Bilder der orangefarben gekleideten, knienden, von der Umwelt abgeschnittenen Gefangenen Guantánamos. Letztere wurden nicht etwa von Menschenrechtsaktivist*innen geleaked, sondern vom US-Verteidigungsministerium selbst veröffentlicht. Sie zeigen die Gefangenen als Trophäen der Macht, als Drohung an ganze Bevölkerungsgruppen, und sollen ihre Entmächtigung für die Ewigkeit einfrieren. Gibt es eine Betrachtungsweise, die die inhärente Gewalt der Bilder zu wenden vermag? Die andere Gemeinschaften in ihrer Betrachtung erzeugt?

„... what was being done to me“

Ahmed Rabbani wurde zwei Jahre in einem von den Gefangenen als „dark prison“ bezeichneten Geheimlager gefoltert und ist seitdem ohne Anklage in Guantánamo gefangen. Während seiner langwierigen Hungerstreiks wurde er dort auf brutale Weise zwangsernährt. „You’re strapped into a six-point restraint chair—we even called it the ‘torture chair’—and a lengthy tube is jammed into your nose and snaked down your throat. You feel as though you are choking, being strangled, and yet somehow still able to breathe. It’s an excruciating, impossible-to-describe feeling that I wouldn’t wish on anyone“9, so beschreibt der Entlassene Lakhdar Boumediene den Vorgang. Rabbani, wie auch die anderen, wurde dabei gefilmt. Als die Aufnahmen, die man für ausschließlich beschämend halten würde, aussetzten, bedauerte er dies jedoch, „as I would always describe loudly for the camera, what was being done to me“.10 Damit zeigt Rabbani, dass die Überwachungssysteme Guantánamos neben allem Gewaltdruck auch eine minimale Offenheit besitzen, die von den Gefangenen eigensinnig genutzt und angeeignet werden kann. Die gleichgültige Kamera, die jede Privatsphäre zerstören soll, wird dazu genutzt, die abwesende Welt zu adressieren und zu beschwören. In der Kommentierung des eigenen Leidens wird die Konstitution eines „Ich“ möglich, das mehr ist als der leidende Körper: Ein Mensch, der auf seinen Rechten besteht, der den Skandal beschreit, den das Unrecht an ihm bedeutet.

„only despair“

Noch die extremsten Formen der Gewalt zielen nicht allein auf ihre Verunsichtbarung, sondern setzen Sichtbarkeit und Publikumssituationen strategisch ein: um die Verantwortung an Dritte zu delegieren, um zu beschämen und zu bedrohen. Dies gilt sowohl für die intimen Szenen der Gewalt in Geheimgefängnissen wie auch für die globale Zirkulation der Fotografien aus Guantánamo. Gleichzeitig zeigt das Zeugnis Ahmed Rabbanis, dass die Produktion gewaltsamer Bilder einen Spalt nicht verschließen kann, der es erlaubt, einen anderen Sinn in sie einzuschreiben. Aus dem Mechanismus der Überwachung wird so eine Bühne der Entrechteten. Für Künste, Wissenschaften und die kritische Öffentlichkeit gilt es, auch wenn es keinen ethisch abgesicherten Standpunkt des Sprechens gibt, nicht zum schockgefrorenen, gleichgültigen oder applaudierenden Publikum der Gewalt zu werden, sondern Verfahren zu finden, dem Zeugnis der Überlebenden Bühnen zu bereiten und für sie aktiv zu werden. Im Sommer 2018 schrieb Rabbani in einem Gastkommentar der L.A. Times unter dem Titel „I’m stuck in Guantánamo. The world has forgotten me“: „I have gone on hunger strikes many times to peacefully protest my imprisonment. I am back to not eating, but this time it’s not a strike. I have chronic stomach problems so acute that I cannot consume hard food without vomiting blood. I am slowly disappearing, dropping a pound a week. I currently weigh 95 pounds […] When someone says, ‘Good morning,’ I do not respond anymore. There is no morning and no evening. There is only despair.“11 Während sich Guantánamo mit rollstuhlgerechten Zellen für eine lange Zukunft wappnet, drohen die Gefangenen an ihrer Verzweiflung und Vereinsamung zu sterben.

1 Die in diesem Artikel verwendeten Fotografien wurden von Angehörigen des US-amerikanischen Militärs gemacht.
2 Philip Gourevitch: We Wish to Inform You That Tomorrow We Will Be Killed With Our Families. London 1999, S. 95. Gourevitch bezieht diesen Begriff auf den Genozid in Ruanda.
3 Mark Denbeaux et al.: Captured on Tape: Interrogation and Videotaping of Detainees at Guantánamo. [online] https://www.pegc.us/archive/Seton_Hall/SH08_taping_20071210.pdf, S. 5.
4 Memorandum from [REDACTED], Interrogator, Amidon Contracting Solutions Inc., to [REDACTED] 1-2 (Apr. 26, 2003). Zitiert nach ebd., S. 9 und S. 39f.
5 Michelle Shephard: Guantanamo’s Child. Mississauga, Ontario 2008, S. 199.
6 Reinhold Görling: Performativität und Gewalt: Zur Destruktivität der Folter. In: Erika Fischer-Lichte / Kristiane Hasselmann (Hrsg.): Performing the Future. Die Zukunft der Performativitätsforschung. München 2013, S. 67.
7 F[ield] M[anual] 2-22.3 (FM 34-52). Human Intelligence Collector Operations (September 2006). [online] https://fas.org/irp/doddir/army/fm2-22-3.pdf, S. 5-14.
8 Samir Naji: Gitmo Inmate: My treatment shames American flag. CNN vom 11.12.2014 [online]. https://edition.cnn.com/2014/12/11/opinion/guantanamo-inmate-naji/index.html
9 Lakhdar Boumediene: I Was Force-Fed at Guantanamo. What Guards Are Doing Now Is Worse. The New Republic vom 30.10.2017 [online]. https://newrepublic.com/article/145549/force-fed-guantanamo-guards-now-worse
10 Amel Ahmed: Lawyers file for emergency order against Gitmo staff. Al Jazeera vom 16.06.2014 [online]. http://america.aljazeera.com/articles/2014/6/16/lawyers-file-foremergencyrestrainingorderagainstgitmostaff.html
11 Ahmed Rabbani: I’m stuck in Guantanamo. The world has forgotten me. Los Angeles Times vom 26.07.2018 [online]. https://www.latimes.com/opinion/op-ed/la-oe-rabbani-guantanamo-prison-torture-20180726-story.html

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