Theater der Zeit

Der rauchende schwarze Spiegel

Wie das mexikanische Theater seinen ursprünglichen Charakter an der Bruchstelle zwischen Realität und Fiktion wiederfindet – jenseits eines Mexikos der Medien

von Alberto Villarreal

Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Mexiko (03/2015)

Assoziationen: Nordamerika

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Wie in jedem Hort des Theatralen gewinnen in Mexiko Aufführungen Form und Gestalt, die den Riss in der von der zivilisierten Welt festgelegten Wirklichkeit offenbaren. Sie lassen deren Grenzen bröckeln und zerfließen. Selten und marginal sind diese Theaterformen, aber sie inspirieren und überzeugen. Dagegen überwiegt ein Theater, das sich durch eine effektive und zahme Ästhetik auszeichnet und der Mode ebenso entspricht wie den Verallgemeinerungen eines politisch korrekten und harmlosen Kunstkanons – ein Theater der artigen Anschuldigungen, konzipiert für große Bühnen und Festivals. Beispiele dafür gibt es viele, wie es sich gehört für ein Land als „aufstrebende Wirtschaftsnation“ und „beliebtes Tourismusziel“. Sie entsprechen dem „symbolischen Markt“, auf dem Mexiko, wie jede Nation, ein Themenfeld bedienen soll, das den äußeren wie den inneren Blick auf das Land bestimmt. Diese Themen entspringen internationalen Vorstellungswelten, die dieses Territorium speisen – das eher fiktiv ist als politisch oder sozial. Durch sie wird ein Wirklichkeitsmodell in szenische Form gebracht; es entspringt historischen Urverletzungen, die wiederum eine Identität und ein ungefähres Zukunftsregister hervorgebracht haben. Dennoch können diese „nationalen Themen“ leicht zu Gewohnheitsfloskeln in Sinn und Bedeutung werden, zu vorgefertigten moralischen Antworten. Vereint mit den zeitgenössischen Vorgaben einer global diktierten Ästhetik lassen sie ein mit dem „Mexiko der Medien“ vereinbares Bild entstehen, geeignet für den Export und ein konservatives Identitätsverständnis des Landes. Diese Themen können in Bildräume oder -systeme eingeteilt werden: a) der geografische Raum: die Grenze zu den Vereinigten Staaten, dazu zwei Unterthemen: Drogenhandel und Migration; b) der zeitliche Raum: die Revolution von 1910 sowie die daraus entstandene Kunst des Muralismus (Wandmalerei mit nationalen, sozialkritischen und historischen Inhalten) einschließlich ihrer globalen Ikonen Frida Kahlo und Diego Rivera; c) der Sprachraum und der symbolische Raum: magischer Realismus (Folklore/Indigenismus), interpretiert von fremden Denkern (Antonin Artaud, Jack Kerouac, Sergei Eisenstein); d) der ethische/moralische Raum, der ganz Lateinamerika umfasst: politische Korruption/Diktaturen. Diesen Räumen wird ein Gefühlsregister zugeordnet: das Melodram, und ein Stil: der barocke Expressionismus. Die Summe dieser Einzelteile wird zu einer identifizierbaren und identitären „Landesküche“ von gefährlicher Einträglichkeit. Die offizielle Identität ist ein schwerfälliges Schattentheater.

Theaterformen, die sich lieber einer Gefahr aussetzen, als etwas in Szene zu setzen, lösen sich von der Mode und von eingefahrenen Themen, um aus den Spannungen zwischen Realität und Fiktion zu schöpfen. Sie vergegenwärtigen die Urverletzung dieses Landes, machen das Theater zu einem Labor von Bewusstsein und Identität. Wie jedes große Welttheater sind sie selten, doch es gibt sie.

Jede Neuheit stützt sich letztlich auf alte, neu besehene Werte. Um die sinnliche und fiktionale Besonderheit dieser Erscheinungsformen zu begreifen, muss man deshalb die Idee „aktueller Thematiken“ des mexikanischen Theaters überwinden und sich eine andere Definition dieser Theaterphänomene zu eigen machen: als Realitäts- und Identitätspakt mexikanischer fiktionaler Landschaften. Begründet – bzw. der westlichen Gedankenwelt hinzugefügt – wurden diese Landschaften aus dem Gegensatz zwischen den Vorstellungswelten des spanischen Barocks und der überwältigenden Dekonstruktion der indigenen Welt. So, aus dem Kreuzzug des Barocks, der alles in ein „Welttheater“ verwandelte, gegen die indigene Welt, die ihrerseits als „rekursive Rückkopplung“ westlicher Gedankenwelten fungierte, entstand eine echte „Theater“-Nation, die auf dem Zweifel am Realitätsprinzip gründet. Jedoch schätzt diese Nation Theater im Sinne einer in der Tradition westlicher Ästhetik stehenden Form von Theatralität erst in zweiter Linie, zumal wenn man das theatrale Element als Vorgänger des Theaters begreift – eine theoretische, vielleicht gar willkürliche Annahme meinerseits, als Ureinwohner eines Ortes, der auf ewig gebrandmarkt ist: als „der neue Kontinent“.

In Mexiko bleibt das ästhetisch geprägte Theater hinter den theatralen Phänomenen des Landes – andere Wirklichkeitswelten auf Volksfesten, bei Totenritualen und Karnevalsriten – zurück; sie machen die mexikanische Identität aus. Deshalb spielt das „ästhetische Theater“ keine zentrale Rolle in der nationalen Rangordnung der Künste – angeführt wird diese von bildender Kunst und Film, sprich: vom Bild als Inbegriff der Welt. Im Gegensatz dazu sind paratheatrale oder performative Formen feste Bestandteile von Alltag und Nationenbildung. Als Beispiel dafür ließe sich anführen, dass die indigene Bevölkerung mithilfe von Theaterstücken evangelisiert wurde – ohne jeden ästhetischen Anspruch, aber im Hinblick auf eine Kultur, der komplexe Theatralitäten wohlvertraut sind. In diesen Theaterstücken beschwören die Relativierung der Wirklichkeit und die sakrale und erotische Überhöhung der Körper Bilder herauf, in denen Schauspieler sich in Tiere verwandeln – nahual in der aztekischen Sprache Nahuatl – und dem christlichen Mysterium der Menschwerdung ihre Körper leihen, wie in „El divino Narciso“ (Der göttliche Narziss) von Sor Juana Inés de la Cruz.

Das 19. Jahrhundert bringt eine neue Theatralität hervor, dieses Mal als angewandte politische Utopie im Zuge der Gründung der lateinamerikanischen Nationalstaaten. Mit dem verlorenen Krieg gegen die Vereinigten Staaten wird auch die Grenzfrage – das Land zu sein, wo die lateinamerikanische Vorstellungswelt endet – zu einem bis heute ungelösten identitär-fiktionalen Phänomen. Die reellen territorialen Verluste zwingen die mexikanische Theatralität dazu, die eigene ikonische Kraft zu betonen, als politische Strategie im Sinne eines symbolischen Gegenangriffs. Das 20. Jahrhundert beginnt mit der Mexikanischen Revolution und einem künstlerischen Nationalismus; zum ersten Mal wird die Kunst als Werkzeug nationaler Identitätsstiftung genutzt, dabei steht sie in direktem Austausch mit der europäischen Avantgarde. Hundert Jahre später nimmt das 21. Jahrhundert seinen Anfang mit dem Zusammenbruch ebendieses Nationenmodells, die Kunst befindet sich in einer Repräsentationskrise, während der „ästhetische Kapitalismus“ in Blüte steht. Auf diesen Schlüsselereignissen basieren die vier Hauptlinien zeitgenössischer mexikanischer Theatralität: a) die Darstellung der Realität als krisenhaft und unbeständig, b) die Verkörperung des Rituellen und des Politischen (im menschlichen Körper), c) die Beschäftigung mit den Grenzgebieten als Ende der realen Welt und Expansionsraum der Identität, d) die Tradition des Peripheren und die Sabotage aller klassischen Modelle.

Als unvollständige Aufzählung von Beispielen sollen hier nur einige Namen erwähnt werden, deren Träger das Theater in den Randbereichen der Ästhetik vorantreiben und nicht nur mexikanische Vertreter des zeitgenössischen globalen Diskurses der großen Kulturhauptstädte sind: Guillermo Gómez Peña, der zu Linguistik und performativer Identität in den Sprachen Englisch, Spanisch, Nahuatl forscht; Ángel Hérnandez, der ein Festival ins Leben gerufen hat, das politisch klar Stellung bezieht und sich durch unkonventionelle Dramaturgien auszeichnet; die Initiative Movimiento de Teatro Comunitario (Gemeindetheaterbewegung), die Verbindungen zur indigenen Kultur aufrechterhält; Marco Petriz und seine Dorfgemeinschaft, die selbst zum poetischen Akt geworden ist, und schließlich Gerardo Trejoluna, der den Schauspielerkörper als Kunstraum an sich begreift und nicht nur als Werkzeug des Darstellers. In ihnen findet die mexikanische Theatralität ihren ursprünglichen Charakter an der Bruchstelle zwischen Realität und Fiktion wieder, wie im alten Kult des Tezcatlipoca, der aztekischen Gottheit der Erkenntnis und der Mysterien, Urkraft vorzeitlicher Theatralität, die man sich als rauchenden schwarzen Spiegel vorstellte. //

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