Wut, das doppelschneidige Schwert
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Wendungen: Wutkultur (08/2021)
Jede Wutkultur steht vor der dialektischen Herausforderung, dass die Wut zu den elementaren menschlichen Energien gehört und dass sie zugleich die größte Gefahr für das Miteinander bedeutet. Ohne die Wut wäre kein soziales Leben möglich, zugleich ist sie die Hauptursache für gewalttätige Konflikte. Das nervöse Leben in modernen Gesellschaften verschärft dieses Problem, da die permanente Überforderung aufgrund der Geschwindigkeit und Vielfalt der Lebensvollzüge zu einer viel größeren Reizbarkeit führt. Die Selbstregulierung der Wut, die jeder einzelne Mensch alltäglich leisten muss, gehört zu den größten Herausforderungen unsere Zeit. Zugleich gehört die massenhaft vorgetragene Wut zu den wirkungsvollsten Aufmerksamkeitsquellen, über die eine Gesellschaft verfügt.
Wer diese Wut anzustacheln versteht, erfährt Aufmerksamkeit. Und wer diese Wut zu lenken weiß, bekommt Macht über die Menschen. Wut wird zu einem Wert, der bewirtschaftet wird. Die alltäglichen Wutereignisse bilden ein unerschöpfliches Reservoir, aus dem sich die strategischen Wutmanager bedienen können. Das antike Wechselspiel des göttlichen Zorns, das zwischen tragischer Zerstörung und gelungener Selbstregierung verläuft, wird in der alltäglichen Wut zu einer inflationären Energie. Die wütenden Massen sind die Naturgewalt der Moderne. Sie anstacheln und in Marsch setzen zu können ist die Macht der populistischen Politik.
Die Überlebensfähigkeit einer Zivilisation hängt davon ab, ob ihre wuthemmende Kultur...