Ohne Anfang ohne Ende
von Ulrike Haß
Erschienen in: Kraftfeld Chor – Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek (01/2021)
Alle Versuche, den Anfang des Chors zu ermitteln, laufen ins Leere. Sie stoßen zwar auf eine Vielzahl von Ursprungsherden in den ländlichen Dionysien und Agrarkulten, aber diese verzweigen sich weit über das archaische Zeitalter hinaus und schließlich verlieren sie sich. Für die Anfänge des Chors gibt es keine Zeitangabe, kein Datum. Der Chor hat weder Adresse noch Urheber. Kein Dichter hat ihn sich ausgedacht. Sicher ist nur, dass der Name chorus zunächst einen Tanzplatz bezeichnete, einen simplen Treffpunkt für all jene, die sich zu den großen Frühlingsfesten versammelten, um tage- und nächtelang zu singen und zu tanzen. Die Feste galten den Wiedergeburten des Gottes Dionysos wie auch der Erde. Denn beide haben ihr eigenes Leben, das endet und das wiedergeboren wird und das in allem schlicht das Nichtidentische bezeichnet, dem Menschen begegnen, ohne die Möglichkeit, es einzusehen oder zu verstehen. Diesseits einer naiven Mimetik von Naturprozessen und ebenso diesseits eines verschwommenen, kosmischen Organizismus kannten archaische Gesellschaften das Opfer, mit dem sie die Fremdheit des Lebens heiligten. Heilig machen, sacrum facere, heißt, eine andere Welt mittels eines Opfers in ihrer Unzugänglichkeit zu würdigen; es heißt, eine Grenze zu markieren und diese festlich zu achten. Dazu wurde ein Opfer der Zugehörigkeit...