Theater der Zeit

Vorwort

von Günther Heeg

Erschienen in: Recherchen 136: Recycling Brecht – Materialwert, Nachleben, Überleben (07/2018)

Anzeige

Anzeige

Anzeige

Frech und treuherzig blickt der junge Brecht im Ledermantel in die Kamera des Augsburger Fotografen Konrad Reßler1, die Zigarre wie vergessen in der rechten Hand, die Linke betont lässig von der Stuhllehne hängen lassend. Die Ausstaffierung mit dem viel zu großen Ledermantel, der wie zur Abwehr eines Schlags eingezogene Kopf, die Steifheit des linken Arms und der gekrümmten Hand halten den Augenblick fest, in dem die lebendige Bewegung des Körpers überzugehen droht in die Pose. Noch aber ist sie nicht vollzogen. Darauf weist die komische Inkongruenz von gespielter Größe und Coolness einerseits und andererseits dem Unwohlsein und der Unbehaglichkeit desjenigen, dem Haltung wie Kleidung zu groß sind. Zwischen der intendierten Pose und ihrer komischen Verfehlung blitzt die Geste der schamhaften Bedeckung auf. In ihr artikuliert sich der Körper Brechts, frei von der Erstarrung, die sein Bild in der Gegenwart vielerorts ausmacht.

Der Erstarrung des Autors und Theatermachers Brecht zum Bild und Denkmal seiner selbst entgegenzuwirken, ist das Ziel dieses Bandes. Den im Mausoleum des Epischen Theaters begrabenen Brecht setzt das Buch einer Praxis des Recyclings aus, die ihn auf seinen „Materialwert“2 für die Gegenwart hin befragt. Die Autorinnen und Autoren folgen damit einem Verfahren, das Brecht selbst angewandt hat.

Ende der 1920er Jahre setzt Brecht den Bewahrern des kulturellen Erbes die These vom Materialwert der Kunst entgegen. Er verabschiedet die Vorstellung einer überzeitlichen Dauer der Werke und rät, deren einzelne Teile bedenkenlos „herauszuhacken“3 für ihre Wiederverwendung in der Gegenwart. Sein Vorschlag betont den Zeitkern von Kunst und zielt auf eine weitreichende Praxis der Wiederholung, Aneignung und Transformation historischer Artefakte und künstlerischer Praktiken. Diese bisher kaum reflektierte Theorie und Praxis Brechts wird hier rekonstruiert und auf ihn selbst angewendet. Die Beiträge dieses Bandes, Ergebnis einer internationalen Forschungskooperation zwischen Deutschland, Japan, Korea und Italien, gehen der Frage nach dem Materialwert Brechts in seinen eigenen Arbeiten und in seinem Nachleben in Theater und Film unserer Zeit nach. Sie fokussieren Verfahren Brechts, die für die Gegenwart nicht nur von künstlerischer, sondern auch von politischer Bedeutung sind, darunter Praktiken der Historisierung, der transmedialen „Trennung der Elemente“4, der opernhaften Intensivierung von „Zuständen“5 und des szenischen Reenactments klassischer Werke.

In der Einleitung erläutert der Herausgeber Günther Heeg (Leipzig) die Grundzüge der Praxis des Recyclings im Kontext der „Materialwerttheorie“ Brechts und des Konzepts des Nachlebens. Von hier aus wirft er einen Blick auf zukünftige Perspektiven des Überlebens von und mit Brecht.

Die folgenden Beiträge sind in drei Sektionen eingeteilt, die spezifische Felder und Praktiken des Recyclings beschreiben. Die mit „Wiederholungen“ überschriebene Sektion greift Theoreme und Stücke von Brecht und Zeitgenossen auf, um sie auf ihren Gebrauchswert für die Gegenwart hin zu befragen. Die Dramaturgin Jeanne Bindernagel und der Regisseur Michael von zur Mühlen (Halle) setzen sich in einem Gespräch über ihre Inszenierung von Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny mit Brechts Forderung der „Trennung der Elemente“ auseinander. Michael Wehren (Leipzig) unterzieht Brechts Theorie der Pädagogien einer Revision aus der Sicht gegenwärtiger Theaterarbeit. Francesco Fiorentino (Rom) folgt in seiner Analyse der dramaturgischen Struktur der Maßnahme Freuds Diktum „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“. Andrea Hensel (Leipzig) erläutert und überprüft Brechts Praxis des Historisierens am Beispiel des Romans Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell.

Die unter der Überschrift „Trennungen/Übertragungen“ versammelten Beiträge untersuchen Anwendungen, Weiterschreibungen und Überschreitungen Brechts in der künstlerischen Praxis der Gegenwart. Mai Miyake (Tokio) analysiert die aus der „Trennung der Elemente“ hervorgehende Rhythmisierung an einer japanischen Aufführung von Fatzer durch die Gruppe Chiten aus Kyoto. Carolin Sibilak (Berlin) beschreibt eine aktuelle Erscheinung des Verfremdungseffekts in der Berliner Inszenierung der Zauberflöte durch die britische Theatergruppe 1927 und Barrie Kosky. Hyun Soon Cheon (Jinju) folgt den Spuren der Wiederkehr des Epischen Theaters in einem Science-Fiction-Film von Alexander Kluge. Veronika Darian (Leipzig) und Jana Seehusen (Berlin) schreiben Brechts Erzählung Der Arbeitsplatz oder Im Schweiße deines Angesichts sollst du kein Brot essen auf eine die Grenzen von Kunst und Wissenschaft, Vergangenheit und Gegenwart überschreitende Weise sprachbildnerisch fort.

„Resonanzen“, die dritte Abteilung des Bandes, nimmt transkulturelle Affinitäten zwischen Konzepten und Praktiken unterschiedlicher kultureller Herkunft in den Blick. Chikako Kitagawa(Tokio) untersucht Ähnlichkeit und Differenz von Brechts Gestus des Raum-Lassens und der Ästhetik der Lücke im Nô und dem Musiktheater Toshio Hosokawas. Eiichiro Hirata (Tokio) geht dem Phänomen der offizielle Lesarten konterkarierenden „Schattendramaturgien“ bei Brecht und im traditionellen japanischen Theater nach. Eun-Soo Jang (Seoul) widmet sich dem zeitgenössischen Theater nach Brecht im Doppelsinn des Wortes. Suk-Kyung Lee (Seoul) sucht Resonanzen Brechts in der Theaterarbeit von Falk Richter auf. Patrick Primavesi (Leipzig) beschreibt das wechselseitige Recycling von Brecht und René Pollesch in dessen Aneignung des Antigone-Modells.

Den Abschluss des Bands bildet der Highway-Essay „Die Straße“ von Thomas Lehmen (Berlin). Er öffnet noch einmal einen Raum des Transits, in dem die Wiederkehr Brechts in der Gegenwart geschieht.

Der Herausgeber dankt allen Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre intensive Mitarbeit an der Idee des Recycling Brecht. Ein ganz besonderer, herzlicher Dank geht an Caroline Krämer und Helena Wölfl, die die Entstehung des Buchs von Beginn an redaktionell begleitet und engagiert vorangetrieben haben. Erik Zielke vom Verlag Theater der Zeit hat auch diesem Buch hilfreich zur Seite gestanden und es in gewohnter Weise souverän lektoriert. Dafür gebührt ihm großer Dank.

Leipzig, im Mai 2018

Günther Heeg

1Koetzle, Michael (Hg.): Bertolt Brecht beim Photographen. Porträtstudien von Konrad Reßler, Berlin 1989. Siehe auch die Umschlagabbildung des vorliegenden Buches.

2Brecht, Bertolt: [Gespräch über Klassiker], in: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (im folgenden GBA), Bd 21, S. 309–315, hier S. 311; siehe dazu auch die Texte „Materialwert“. in GBA Bd. 21, S. 285f. und „Der Materialwert“ in GBA Bd. 21, S. 288f.

3In einem „Materialwert“ überschriebenen Text spricht Brecht vom „Heraushacken von organischen Teilen aus Dichtungen“, GBA Bd. 21., S. 285.

4Brecht: „Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘“, in: GBA Bd. 24, S. 79.

5Absicht des Epischen Theaters ist nach Walter Benjamin die „Entdeckung der Zustände“, vgl. Benjamin: [Was ist das epische Theater? (1)], in: Gesammelte Schriften Bd. II.2, S. 519–531, hier S. 522.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Das Ding mit dem Körper. Zeitgenössischer Zirkus und Figurentheater
Theaterregisseur Yair Shermann