Theater der Zeit

martin-linzer-theaterpreis

Das mitleidlose Gefühl der Postmoderne

Die Leipziger Hausregisseurin Claudia Bauer dekonstruiert die Grammatik des Theaters, um sie in neuer Perspektive wieder zusammenzusetzen

von Hartmut Krug

Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)

Assoziationen: Akteure Schauspiel Leipzig

Anzeige

Anzeige

Im Jahr 2002 wurde auf der Bühne des Theaterhauses Jena die Ruhe des Stillstands in der Provinz ausgestellt. Acht Menschen träumten, und ein Schaf döste und fraß auf grünem Rasen vor sich hin. Als Bewegung ins Spiel kam und sich die acht Einzelkämpfer in und zwischen drei Fotofix-Passbildautomaten (für das Selbstdesign) unentwegt neu zu erfinden suchten, redeten sie so hektisch, als ginge es nicht nur um ein neues, sondern ums ganze Leben. Provinz ist der Ort, aus dem alle flüchten wollen, indem sie sich neu erfinden. Doch ist sie nicht nur der Ort, an dem man lebt, sondern sie steckt in jedem und man entkommt ihr und sich nicht. Autorin Felicia Zeller hatte mit ihrem Stück „Triumph der Provinz“ ein wildes Konglomerat von Szenen und Situationen, von Mono- und Dialogen für den Prozess immer neuer Identitätserschaffungen vorgelegt. Für die Uraufführung des Stückes hatte Regisseurin Claudia Bauer den mäandernden Fließtext klug gekürzt und aus den Bewegungen und Beziehungen der Figuren kleine Geschichten von groteskem Witz destilliert. Dabei habe ihr auch die Sprache des Stückes gefallen, hob Bauer, die in ihren Inszenierungen deutlich auf die Sprachpoesie der Stücke achtet, im Interview hervor: „Felicia Zeller schafft es, moderne Sprachstrukturen rhythmisch aufzuzeigen, unsere zerrissene, unkonzentrierte und schleifenhafte Art zu sprechen in eine Überhöhung zu bringen, die eine große Poesie besitzt.“

Die Regisseurin baute dazu choreografisch bewegte Körper-Bilder, wie etwa in jener Szene, in der die Darsteller, die stets alle zugleich auf der Bühne sind, als Chor der Fußball-Fernsehenden mit ihren Stühlen zum Spiel herandribbeln. Diese Art, bei einer Inszenierung, und sei es gar eine Uraufführung, den Text zwar ernst, aber nicht als heilig zu nehmen, sondern ihn fürs Spiel neu zu erfinden, prägt ihre Arbeit. Dabei ist Claudia Bauer keine Regisseurin, die wie so viele Regisseure eine bestimmte Inszenierungsform als Markenzeichen benutzt. Ihre Abende entwickeln sich aus den Vorlagen der Autorinnen und Autoren, und auch, wenn sie gern den Figuren Masken vorhängt, bleiben diese formal und bildhaft unterschiedlich. Vor allem aber liest sie neue Texte, selbst solche, die einem zuweilen bei der Lektüre recht kryptisch vorkommen mögen, mit klugem Eigensinn und energisch liebevollem Gestaltungswillen. Manche sehen sie deshalb als Fachfrau für eigentlich schwere bis unspielbare Stücke.

Von der Schauspielschule in die Provinz

Geboren 1966 im niederbayerischen Landshut, studierte Bauer kurz nach der Maueröffnung Regie und Schauspiel an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Bis heute wohnt sie in Berlin. Nach Studienabschluss arbeitete sie zunächst als freie Regisseurin. Sie inszenierte in Aachen Thomas Jonigks „Du sollst mir Enkel schenken“ und in Cottbus „Der Stiefel und sein Socken“ von Herbert Achternbusch. Sogar als Schauspielerin war sie tätig – an der Baracke des Deutschen Theaters in „Die Menschenfabrik“ von Oskar Panizza (Regie Christian von Treskow). Dann begann eine enge Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen und Puppenspieler Rainald Grebe. Mit ihrer fantasievollen und eigenwilligen gemeinsamen Inszenierung von „Faust – eine Höllenfahrt in 13 Bildern“ nach Goethe in Halle erregten sie Aufsehen und wurden preisgekrönt.

Im November 1991 wurde von rund zwanzig jungen Künstlern, unter ihnen 13 Absolventen der Ernst-Busch-Schule, das Theaterhaus Jena gegründet. Man versuchte ein neues Theatermodell: ohne falsche Hierarchien, aber mit einer Ensemblevertretung, die ein Mitspracherecht besaß. Das Theaterhaus entwickelte sich mit seinem Schwerpunkt aus Performance und Live Art zu einer der wichtigsten Avantgarde-Bühnen Ostdeutschlands. Doch mit seinem alternativen Organisationsmodell geriet das Theater nach acht Jahren in eine künstlerische und organisatorische Krise, worauf die Gesellschafter der gemeinnützigen, von Stadt und Land geförderten Theaterhaus GmbH 1999 Claudia Bauer zur künstlerischen Leiterin wählten. Da der Zuschauerraum abgerissen worden war, bestand das Theaterhaus Jena nur aus dem Bühnenturm und einer Unterbühne. Herkömmliches Guckkasten- oder Illusionstheater konnte hier nur schwer gespielt werden. Es musste experimentiert werden, worauf etliche Inszenierungen in freier Be- und Erarbeitung entstanden.

Mit Bauer kam eine Gruppe von Figurenspielern, die mit ihr schon in Aachen, Berlin und Schwerin zusammengearbeitet hatten. Bauer sagt: „Puppen haben etwas angenehm Zeichenhaftes. Sie bilden die Wirklichkeit nicht ab, sondern überhöhen sie. Und durch diese Überhöhung gelingt es manchmal, die Zuschauer so zu verführen, dass sie bereitwillig etwas Fremdes entdecken.“ Ihre ersten Inszenierungen in Jena galten Büchners „Woyzeck“ und Brechts „Baal“. Schnell fand das neue Theaterhaus Jena sein vor allem junges Publikum, das zu den Premieren auch von weit her anreiste. 13 eigene Inszenierungen entwickelte Bauer in Jena, bei denen später bekannte Darsteller wie Sandra Hüller, Anita Vulesica und Rainald Grebe mitspielten. Zu sehen waren fantasievoll suchende, keinem festgelegten Stil verhaftete Arbeiten. Oft waren es große Stoffe, offen in der Form, kräftig im Ausdruck, aber nie forciert experimentell. Ob Horvaths „Kasimir und Karoline“, Gorkis „Nachtasyl“ oder Tschechows „Platonow“ – die Regisseurin sorgte mit unkonventionellen Inszenierungen für Furore. Sogar „Tarzan“ inszenierte sie und eine „Fight Club“-Version, für die sie ein Kampftraining mit dem gesamten Ensemble absolvierte. Das Theaterhaus Jena bot der jungen Regisseurin die Möglichkeit, viel auszuprobieren. Ihr „Woyzeck“ schnitt, wie in einer Kritik stand, „wie ein Rasiermesser durch seine Zeit“.

Zwischen Provinz und Metropole

Wer die Arbeit von Claudia Bauer regelmäßig verfolgen will, der muss viel reisen. Zwar gibt es Haltepunkte: Künstlerische Leiterin am Theaterhaus Jena von 1999 bis 2004, Hausregisseurin am Neuen Theater Halle von 2005 bis 2007 und derzeit eine von drei Hausregisseuren am Schauspiel Leipzig. Doch gleichzeitig ist sie unermüdlich als freie Regisseurin unterwegs. So inszenierte sie an großen und kleinen Häusern, in Ost wie in West. Dabei bekommt die Westlerin viele „Ostthemen“ angeboten, denn die ostdeutschen Theater melden sich gern bei ihr, häufig mit schwierigen Stücken. So erging es ihr auch als Hausregisseurin in Halle.

Bevor sie hier Oliver Schmaerings 2005 beim Stückemarkt des Theatertreffens mit einem Förderpreis ausgezeichnetes „Seefahrerstück“ zur Uraufführung brachte, segelte sie zwei Wochen mit der Mannschaft des Schulschiffs „Roald Amundsen“ mit. Schmaerings Collage über die Irrfahrt eines Kutters während eines Seekriegs gegen Kuba, bei der alle Zuckervorräte der Welt vernichtet werden sollen, springt zwischen den Zeiten und Orten hin und her. Während vom Zweifel der Seeleute am eigenen Weltbild erzählt wird, wechseln sich Dialoge mit lyrischen Texten und Prosa ab. Es gibt nur wenige Regieanweisungen und nur drei ansatzweise psychologisch ausgearbeitete Figuren: einen König, einen Philosophen und eine Tänzerin. Wie Bauer die Gruppe von Seeleuten – die sie in Arbeitshosen mit Hosenträgern über nacktem Oberkörper zeigt, dazu die Tänzerin mit langen blonden Haaren überm hautengen Kleid – ins bildstarke Spiel bringt, gibt Schmaerings collagenhaftem Denkstück über die Entstehung von Kriegen enorme szenische Kraft.

Schauspiel Leipzig

Wie die Gesellschaft auf Individuen einwirkt und diese verformt, beschädigt oder verändert, ist ein Thema, das für Bauer in den von ihr urinszenierten Stücken immer stärker eine Rolle spielt. Überdeutlich wurde dies erstmals, als sie Anne Leppers „Seymour oder ich bin nur zufällig hier“ 2012 in Hannover zur Uraufführung brachte. Gezeigt wurden übergewichtige Kinder in einem Sanatorium. In einem schaurigen Melodram kämpften die Kinder, die durch Fatsuits zu Michelin-Männchen aufgepolstert wurden, verzweifelt um ihr So- und Dasein. Inszeniert hatte Bauer dies als eine urkomisch-traurige und zugleich hochkomödiantische Groteske.

2013 gelingt es ihr dann, Wolfram Hölls Hörspieltext „Und dann“ dem Theater mit szenischen Verfremdungsmitteln zu erschließen. Hoch oben unterm Dach, in der sogenannten Diskothek des Leipziger Schauspielhauses, spricht ein Kind nach der Wende über seine Verluste. Im Gerippe einer Plattenbauwohnung ohne Fensterscheiben vermisst es die Mutter, erwähnt zwei Geschwister und den nicht recht ansprechbaren Vater – auch die Panzerparadenstraße sowie die Plattenbauten um ihn herum spielen eine Rolle. Wie in einer Klangschleife werden seine Erinnerungen und Wünsche unentwegt wiederholt, während die Darsteller mit verzerrten Stimmen reden und teils Puppenkleidung sowie übergroße Burattino-Köpfe mit spitzen Nasen tragen. Sie spielen eine ver- und entfremdete Familie und lassen dabei Nachwendeängste und Erlebnisse verstörend aufscheinen. Ein Alptraum, der mit Videos, Projektionen, Musik und chorischem Sprechen die Einsamkeit des Jungen schrecklich einprägsam werden lässt.

In Katja Brunners „Geister sind auch nur Menschen“, von Bauer im März 2017 in deutscher Erstaufführung ebenfalls in der Leipziger Diskothek inszeniert, kommen die Alten zu Wort und zur Ansicht. Sie sind, so heißt es, unter den Lebenden die Geister. Bei ihrem Kampf, durch Sprache und Erinnerungsversuche ihre Identität zu bewahren, besitzen sie allerdings wenig Chancen. Zunächst stellen sich die sechs Darstellerinnen und Darsteller in pastelligen Kleidchen vor einer verhangenen Rotunde auf. Die Gesichter gepudert, Augen und Lippen verschönert, Schleifen im Haar und ganz in Weiß, so bilden sie einen Chor der Erinnerung, der vom Alter und von Gebrechlichkeit tönt. In der nächsten Szene ist auch das Bühnenbild auf der Minidrehbühne, das sich hinter der Rotunde öffnet, weiß. Hier warten die Alten nun unter ungepflegten grauen Perücken und mit der Unförmigkeit ihrer dicken, welken und deformierten Lebenspanzer. Sie versuchen, gegen ihre Entrechtung aufzubegehren, können sich aber nicht mehr richtig artikulieren. Es herrscht eine erschreckende und zugleich grausame Endzeitstimmung. Eine Frau vermag sich nur noch durch Koten bemerkbar zu machen, eine andere versucht dies mit Wimmern. Keiner kann hier noch selbstbestimmt sagen, wer er ist oder war.

Mit ihrer Inszenierung einer Bühnenfassung von Peter Richters Roman „89/9O“, der von Problemen Dresdner Jugendlicher in der Wendezeit erzählt, von ihren Suchbewegungen zwischen Rechts und Links, ist Claudia Bauer 2016 ein überwältigender szenischer Wurf gelungen. Obwohl das „Wimmelbuch“, wie die Regisseurin Richters Roman nannte, keine klare durchgehende Handlung mit sich entwickelnden Charakteren besitzt. Genial Bauers Einfall, einen 24-köpfigen klassischen Chor auf die Bühne zu holen. Er gibt der Handlung Struktur, Rhythmus und Drive. Seine Lieder erzählen von der Zeit vor und während der Wende, und aus ihm heraus treten die Figuren: eine Lehrerin und ein Lehrer, eine Jungkommunistin, alle drei mit sozialistischer Überzeugung. Außerdem ein Transvestit sowie der Erzähler und sein Freund. In drei Spielstunden werden die Geschehnisse vom Mauerfall im November 1989 bis zum letzten Tag der DDR am 2. Oktober 1990 durch- oder angespielt. Die Bühne als Erinnerungsraum, durch den das Schauspielensemble als blaugekleidete Puppengruppe ebenfalls mit Burattino-Köpfen wandert und der Chor den historischen Resonanzraum liefert. Die Inszenierung umkreist die Wende-Geschichte gleichermaßen mit Ernsthaftigkeit wie mit Witz und Ironie. Mit ihr hat Claudia Bauer ihrer karikierender „Puppenästhetik“ zu einer neuen Ausdruckskraft verholfen.

Berlin und Venedig

Claudia Bauer ist mit ihrer Leipziger Inszenierung von Wolfram Hölls „Und dann“ sowie mit PeterLichts „Der Menschen Feind“ aus Basel zum 45. Internationalen Theaterfestival der Biennale in Venedig eingeladen. Die Biennale schreibt dazu: „Dies sind Theaterstücke, in denen die Grammatik des Theaters dekonstruiert wird, um in einer neuen Perspektive wieder zusammengesetzt zu werden.“ Festivalleiter Antonio Latella sagt zur Einladung, Claudia Bauers Inszenierungen seien „magische Kisten, in denen Bitterkeit und groteske Albträume ein Gefühl der mitleidlosen Postmoderne vermitteln“.

Auch mit der Auswahl ihrer Leipziger Inszenierung von „89/90“ für das Berliner Theatertreffen wird die Regisseurin Claudia Bauer endlich so aufmerksam wahrgenommen, wie es ihrer Arbeit längst gebührt. //

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Recherchen 167
Cover Rampe vol.2
Cover B. K. Tragelehn
Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"

Anzeige