Theater der Zeit

Editorial

von Carsten Ahrens

Erschienen in: 13 x Heiner Müller (04/2016)

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13 Inszenierungen von Theatertexten Heiner Müllers hat B. K. Tragelehn in über dreißig Jahren in beiden Teilen Deutschlands realisiert. Nach Tragelehns Devise »Widersprechen ist immer richtig« und Heiner Müllers poetischer Positionierung »mein Platz ist zwischen den Fronten – darüber« – und somit immer wieder unterbrochen von Zensur und Berufsverbot im Osten, aber auch im Westen Deutschlands – haben Tragelehn und Müller das Theater als Korrekturmodell und Gegenentwurf markiert, vom Aufbruch mit DIE KORREKTUR im Jahr 1959, über die nach der Uraufführung verbotene UMSIEDLERIN kurz nach dem Mauerbau 1961 bis zum Satyrspiel LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUSSEN LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI 1991 nach dem Fall der DDR.

13 x Heiner Müller erscheint zum achtzigsten Geburtstag von B. K. Tragelehn auf Initiative und im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin, in der Elgin Helmstaedt in enger Kooperation mit dem Regisseur, Autor und Übersetzer Tragelehn am Aufbau des B. K. Tragelehn-Archivs arbeitet. In Selbstzeugnissen und Dokumenten, einer Collage aus Texten und Fotografien, die vornehmlich aus den Archiven der Akademie stammen, dokumentiert die Publikation die Stationen der Zusammenarbeit von B. K. Tragelehn und Heiner Müller, die seit Mitte der 1950er Jahre den Versuch unternahmen, Brechts Credo Von der Veränderbarkeit der Welt für das Theater und die Gesellschaft produktiv zu machen.

Der Titel des Buches 13 x Heiner Müller ist dabei im Sinne B. K. Tragelehns nur als Hausnummer zu verstehen; denn wie so oft im Leben bleibt im Rückblick so manches ungezählt. So fehlen in der Titel gebenden Addition die vielen Projekte, die, sei es aufgrund von rigidem politischen Verbot oder aufgrund komplizierter Umstände, nicht realisiert wurden, und ebenso fehlen in der Zählung die Zweitfassungen, die manche Wiederaufnahme zu einer Neuinszenierung machten.

Der junge B. K. Tragelehn verlässt Mitte der 1950er Jahre seine Heimatstadt Dresden und geht nach Berlin/Ost. Er hat Glück und erhält Zugang zu einem Club der Auserwählten; er wird Meisterschüler der Akademie der Künste und somit Regieassistent bei Bertolt Brecht am Berliner Ensemble. »Ich war erst 19 Jahre alt, als ich dorthin kam, hatte keine Ausbildung. Praktisch war ich Regieassistent am Berliner Ensemble, und die Akademie hat mich bezahlt. Wenn man 19 Jahre alt ist, ist das ein großer Eindruck. Nach dem Krieg war es so, daß die großen Leute, nicht nur des Theaters, sondern genauso die Maler, Schriftsteller, Musiker, wenn sie nach Deutschland zurückkamen, in die DDR zurückkamen. Und da waren sie Mitglieder der Akademie der Künste. Das war eine Götterversammlung damals. Die war natürlich sehr beeindruckend«, erinnert sich Tragelehn.

Im Jahr 1948, ein Jahr vor der Gründung der beiden deutschen Staaten, hatte sich Bertolt Brecht nach reiflichen Überlegungen entschlossen, mit österreichischem Pass und Schweizer Bankkonto, aus dem Exil ins Nachkriegsdeutschland zurückzukehren. »Es ist klar aus allem, daß Deutschland seine Krise noch gar nicht erfaßt hat. Der tägliche Jammer, der Mangel an allem, die kreisförmige Bewegung aller Prozesse, halten die Kritik beim Symptomatischen. Weitermachen ist die Parole. Es wird verschoben und es wird verdrängt. Alles fürchtet das Einreißen, ohne das das Aufbauen unmöglich ist«, konstatiert Brecht im Schweizer Journal 1948. Sein Ziel ist Berlin und er entscheidet sich in der von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs in Sektoren aufgeteilten Stadt für den von der Sowjetunion verwalteten Sektor. Im gleichen Jahr nimmt Ernst Bloch den ihm angebotenen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Leipzig an und auch Hans Mayer folgt einem Ruf nach Leipzig und wird Professor für Literatur an der Universität. Die Idee, an dem Experiment eines anderen, eines neuen Deutschlands mitzuwirken und einen wirklichen Neuanfang zu wagen, übt für viele einen großen Reiz aus. Andere, wie Horkheimer, Adorno oder Fritz Kortner kehren in den Westen zurück.

Viele Jahre später erinnert sich Heiner Müller an diese Zeit, in der Entscheidungen zu fällen waren: »Dieses Parteiergreifen für die DDR hing mit Brecht zusammen, Brecht war die Legitimation, warum man für die DDR sein konnte. … Damit gab es einen Grund, das System grundsätzlich zu akzeptieren. … Brecht war das Beispiel, daß man Kommunist und Künstler sein konnte – … Brecht war eine europäische Position gegenüber der nationalen.«

Zusammen mit Erich Engel feiert Brecht mit der Inszenierung von Mutter Courage und ihre Kinder 1949 am Deutschen Theater in Berlin einen ersten großen Erfolg. Anfeindungen im Rahmen der Formalismus-Debatte entzieht er sich mit diplomatischem Geschick. Es beginnt die Arbeit im neu etablierten Helene-Weigel- Ensemble am DT. Der Hofmeister von Jakob Michael Reinhold Lenz wird 1950 zum größten Erfolg dieser Zeit. 1951 erhält Brecht den Nationalpreis der DDR.

Doch die politische Situation im neuen Deutschland, in dem Brecht mit seinem Theater agiert, bleibt schwierig. Es herrscht die Angst, vom ökonomisch stärkeren anderen Deutschland geschluckt zu werden. Es herrscht die Angst, von Feinden umgeben zu sein und erneut den Kampf für eine andere Gesellschaft zu verlieren. Der neue Apparat hat Angst vor der Freiheit, die er doch spenden will. Es sind Ängste, die real politisch nicht unbegründet erscheinen und die umso gravierender sich äußern, da alte Ängste der Vergangenheit sie schüren. Eine Angst, die lähmt oder zumindest verlangsamt. Brecht: »Das Theater ist wie ein Schwimmer, der nur so schnell schwimmen kann, wie es ihm die Strömung und seine Kräfte erlauben.« Diese Situation kulminiert in den Ereignissen des 16. und 17. Juni 1953. Brecht verfasst eine durchaus auch kritische Stellungnahme an die Staatsführung, doch diese veröffentlicht aus diesem Brief allein die huldigenden Floskeln, vereinnahmt und desavouiert ihn so als funktionierenden Teil des Systems, und es gibt Stimmen, die davon sprechen, dass dieser Vorgang ihn gebrochen habe. Dabei schreibt er in dieser Zeit, fußend auf den Erfahrungen am BE an den Leitlinien eines Theaters der Zukunft, an einer Neufassung seines Organons. Als Tragelehn Brecht 1956 in Buckow besucht, schnappt er sich herumliegende Durchschläge dieser Notizen, die zum Leitbild seines Theaters werden.

In einer Zeit, da das Berliner Ensemble die Ziele Brechts, »die wissenschaftliche Erzeugung von Skandalen“ und die konsequente »Ideologiezertrümmerung«, aus den Augen verliert und zusehends zum Museum der Parabel erstarrt, kommt es zu einer bedeutenden Stafettenübergabe im deutschen Theater. Sie erinnert an die eindringliche Schlusssequenz in Truffauts Film Fahrenheit 451: In einem Wald, gelegen an den Grenzausläufern der Stadt, im vermeintlich unerreichbaren Nirgendwo, arbeiten die Verteidiger der Literatur an ihrer Bewahrung. Die unter Totalverbot stehende Literatur geht hier von der Zunge ins Ohr, damit sie aufbewahrt werde in der einzigen Druckpresse, die Zukunft verspricht – dem Gehirn der Zuhörenden. Wer ein Buch auswendig kann, trägt den Namen des Buches. Wir werden Zeuge in diesem Film, Zeuge, wie der Sterbende, den die Bewohner im Wald »Krieg und Frieden« nennen, seinen Tod auf dem Sterbebett hinauszögern kann bis zu jenem Moment, in dem auch der Roman Tolstois zu seinen letzten Worten, Zuckungen und zu seinem Ende findet. So hat der die Hand des Sterbenden haltende Hörende alles gehört, was ihm erlaubt, von nun an im Wald auf den Namen »Krieg und Frieden « zu hören.

B. K. Tragelehn begegnet Brecht in einem solchen Moment – in Buckow. Auch hier vollzieht sich die Übergabe einer Fackel, die brennt. Auch in dem ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden, der sich in Kürze schon real existierender Sozialismus nennen muss, oder – wie Tragelehn, Enzensberger zitierend und der Kürze des Lebens geschuldet, gerne sagt – »Resozismus«, bleibt die Freiheit, die Konflikte zu benennen und auszustellen, der utopische Fluchtpunkt des Theaters.

Auf der so angelegten Allee treffen sich B. K. Tragelehn und Heiner Müller im Sommer 1957, ein Jahr nach Brechts Tod – und sie verstehen sich auf Anhieb. Tragelehn hatte Heiner Müllers LOHNDRÜCKER gelesen und – ähnlich wie Hans Mayer in Leipzig – darin sofort die Stimme einer neuen deutschen Dramatik nach Brecht erkannt. Schnell kommt es zu einer ersten Zusammenarbeit. Tragelehn inszeniert Heiner und Inge Müllers DIE KORREKTUR an der FDJ-Studentenbühne in Berlin-Karlshorst. Aufgrund des großen Erfolges der Inszenierung schließt das nächste Projekt direkt an, und es entsteht in der Idealkonstellation des Theaters: Der Autor Müller schreibt sein neues Stück DIE UMSIEDLERIN parallel zu und im Dialog mit den Proben des Stücks. Die Uraufführung im Jahr 1961, wenige Wochen nach dem Mauerbau, gerät zum Skandal. Zwar ist die Premiere ein Erfolg, die Zuschauer lachen ob der Komödie über die vielschichtigen Konflikte beim Aufbau des Sozialismus, aber dieses Lachen gefriert. Der von Müller zitierte Satz von Jannis Kounellis: »Je mehr Staat, desto mehr Tragödie; je weniger Staat, desto mehr Komödie«, bewahrheitet sich. Die Staatsorgane machen aus der Uraufführung der UMSIEDLERIN eine der größten Tragödien der DDR-Theatergeschichte. Die mitwirkenden Studenten und selbst Zuschauer müssen sich in Selbstkritiken distanzieren. Heiner Müller wird in einem aufwendigen Verfahren aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, B. K. Tragelehn verliert seine Parteimitgliedschaft sowie seinen Vertrag am Theater in Senftenberg und wird in den Braunkohletagebau nach Klettwitz versetzt.

Mit der Ausnahme eines kleinen Interludiums, der Inszenierung von Müllers Übersetzung von Shakespeares WIE ES EUCH GEFÄLLT 1968 (auch sie nach nur drei Aufführungen abgesetzt), wird es über zwanzig Jahre dauern, bis Tragelehn wieder einen Text Heiner Müllers inszenieren kann, die Uraufführung von QUARTETT – im Westen.

Der Traum, den Tragelehn rückblickend auf diese Zeit entfaltet, »man hätte uns damals ein Theater anvertrauen sollen« – er ist ein Traum geblieben. Auch die kurze große Ära des Inszenierungs-Duos Tragelehn/Schleef, zu Beginn der 1970er Jahre, ermöglicht von der couragierten Ruth Berghaus als Intendantin des BE, blieb Episode. Als Schleef 1976 nicht aus Wien zurückkehrt und es Tragelehn nicht gelingt, sein Projekt eines eigenen Ensembles in der DDR zu etablieren, bleibt auch ihm, um weiter als Regisseur zu arbeiten, nur der Weg in den Westen.

Nachdem ihm in Frankfurt wegen vermeintlichen RAF-Sympathiesantentums fristlos gekündigt wird, werden die Theater in Bochum, Düsseldorf und München die Orte, an denen er wieder Texte von Heiner Müller inszenieren kann. Tragelehn feilt in dieser Zeit mit jeder Inszenierung weiter an seiner Idee des Theaters. Fußend auf dem untrügbaren Glauben an die Wirkmächtigkeit des dramatischen Textes entwickelt er seine Raumidee eines Theaters, das an der Aufhebung der Trennung zwischen Bühne und Parkett arbeitet. Brechts Gedanke, dass die Lösung nicht auf der Bühne, sondern im Zuschauerraum zu finden ist, bleibt ein zentrales Moment in Tragelehns Theatervorstellung. Am radikalsten setzt er sie um in seinen Inszenierungen im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspiels mit SCHLACHT, MACBETH und VERKOMMENES UFER … Tragelehn hat seine Erfahrungen auf dem Theater parallel zur Praxis immer auch formuliert und so ist über die Jahre seine Idee vom Theater als chorisches Experiment zum vielschichtigen Textgebilde einer Chorfantasie angewachsen. In B. K.

Tragelehn hat Heiner Müller einen Regisseur gefunden, der nicht der Versuchung erlag, der Sprachmacht seiner Stücke mit den Regie-Einfällen und -Tricks eines ausufernden Bildertheaters zu begegnen. Vielmehr hat Tragelehn die Musik der Sprache Heiner Müllers gewissermaßen vom Blatt gespielt. Beide eint der Glaube an die Funktion des Theaters, die Realität im Raum der Kunst für Momente unmöglich zu machen, und beide eint die Hoffnung auf eine andere Form der Gesellschaft, die auf dem Theater sich ankündigt.

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